These piers were made for walking…
Der Lago d’Iseo im Christo-Fieber
Nun ist es vorbei. 16 Tage lang – vom 18. Juni bis 3. Juli 2016 – befand sich der Lago d’Iseo, der viertgrößte der oberitalienischen Seen in der Lombardei, im Ausnahmezustand. Menschen aus der ganzen Welt pilgerten zu der aufsehenerregenden Installation „The Floating Piers“ des Verpackungskünstlers Christo. Wir besuchten sein Art-in-Nature-Projekt und spazierten fast einen ganzen Tag auf dem *floating plastic*.
Ihr Ziel war der Weg
Welche Magie die Piers ausübten, welche Leistung Christo vollbrachte, so viele Menschen in so kurzer Zeit zu mobilisieren, sich zu einer wunderbaren Region wie dem Iseo-See zu begeben und dort über das Wasser zu wandeln.
Giornale di Brescia zeigte auf Youtube rund um die Uhr Besucher, die zu der schwimmenden Installation strömten. Durchschnittlich 100.000 sollen es am Tag gewesen sein, an den Wochenenden sogar bis zu 120.000. Selbst noch nachts gingen sie über die leuchtend gelb-orange-gold-farbenen Tücher auf dem Lago d’Iseo. Die ganze Zeit verfolgte eine Webcam auf der Montisola, der idyllischen Binneninsel im Iseo-See, das Geschehen live.
“From everywhere to nowhere”
„People come from everywhere to walk to nowhere. Not to shop, not to meet friends, they just walk, to nowhere”, beschrieb der in Bulgarien geborene und in Amerika lebende 81-jährige Künstler sein Projekt. Absichtsloses und zielloses Gehen – ein hoher philosophischer Anspruch, der in der Realität aber wohl für die meisten nebensächlich war. Von einer Art Gehmeditation auf dem Wasser ganz zu schweigen. Dabei sein war alles!
Wir waren auch mit dabei, spazierten mit tausenden Anderen barfuß und schwitzend kilometerlang über den See: über 220.000 aus Kunststoff zusammengeschraubte Schwimmwürfel, die mit 100.000 Quadratmeter eines Dahlien-gelben Polyamidgewebes überzogen waren, das je nach Lichteinfall und Wasser in der Farbe changierte. Wir umrundeten die winzige Insel San Paolo mit der Villa: Beide befinden sich im Privatbesitz der Familie Beretta, der eine Waffenmanufaktur, Segelschule und auch noch die Isola di Loreto, die zweite kleine Insel im Iseo-See, gehören. Wir waren Teil des Mega-Happenings, das technisch und PR-mäßig eine Meisterleistung war.
Liebe über den Tod hinaus
Christos 2009 verstorbene Frau Jeanne-Claude – beide sind am selben Tag im selben Jahr geboren, er in Bulgarien, sie in Marokko – unterstützte ihn bei diesem Mammut-Projekt sicherlich im Geiste tatkräftig. Es war auch eine Hommage an sie, eine Liebeserklärung an seine Weggefährtin, mit der er all seine „public art“-Projekte auf die Beine stellte. Die künstlerisch-fruchtbare Beziehung zwischen den beiden währte seit 1961 ein ganzes Eheleben lang und wirkt auch noch über ihren Tod hinaus.
„Panta rhei – alles fließt“ – nichts bleibt, alles ist flüchtig und verändert seine Form. Auch Kunst ist vergänglich im großen Raum-Zeit-Kontinuum. Nur die Liebe bleibt, sie durchwirkt alles Materielle, ist ein Kind der Ewigkeit und reicht in andere Sphären.
L’AMO, ein mehrdeutiges Wortspiel
„There is no Christo without Jeanne-Claude, his wife who passed away in 2009 but shared her life and passion for art with him, creating projects together. Today as in the past, her name still appears in the signature as if to sanction their partnership. Together they changed the perception of ‘public art’, creating temporary works that were deliberately short-lived. Once the installation is over, all the elements comprised in the project will be recycled. Of The Floating Piers only the emotions and memories of an event commanding world attention will remain”, heißt es in der Broschüre L’AMO.
L’AMO bedeutet nicht nur „ich liebe es“ (das Projekt und/oder die Region), sondern auch „ich liebe sie” (Christo seine Jeanne-Claude).
Monte Isola, früher ein Geheimtipp
Nur Emotionen und Erinnerungen sollen also übrig bleiben, alles andere wird recycelt. Meine Erinnerungen und Emotionen an den Event sind im Nachhinein gemischt. Wir fuhren rund 500 Kilometer zum Lago d’Iseo, den ich seit 20 Jahren kenne und dessen autofreie, beschauliche Monte Isola ich sehr schätze. Wie oft saß ich schon oben am höchsten Punkt auf der Bergspitze bei der Kirche Santuario Madonna Della Ceriola und habe den wunderbaren See mit seinen ihn umgebenden Bergen bestaunt. Ich habe es genossen, durch die Weinberge zu spazieren und im See zu schwimmen, zu sehen, wie die gläubigen Bewohner einen Tag vor Mariä Himmelfahrt ihre Fenster und Türen mit Madonnenfiguren und Bildern schmücken. Für mich war die Monte Isola mitsamt Lago ein Hideaway, um Energie zu tanken.
Dann kommt ein Künstler wie Christo und schafft es, in nur zwei Jahren (2014 bis 2016) dieses Projekt auf die Beine zu stellen. In wenigen Wochen verlegt er mit seinem Team von Sulzano am südöstlichen Ufer des Sees aus nach Peschiera Maraglio auf der Monte Isola und zur winzigen Insel San Paolo schwimmende, begehbare Pontons, überzieht sie mit glänzenden Stoffbahnen in einer Farbe, die der Haarfarbe seiner verstorbenen Frau ähnelt. Setzt damit auch ein schillerndes Denkmal für sie, mit der er sich das Projekt schon vor rund 40 Jahre ausdachte und jetzt erst ohne sie realisieren konnte. Für Paola Pezzotti, die Bürgermeisterin des 2000-Seelen-Ortes Sulzano, war das temporäre Kunstwerk eine willkommene PR-Aktion, um den bislang nur Insidern bekannten Lago d’Iseo bekannter und vielleicht auch berühmt zu machen.
Verführt von Sirenen oder Medien
Wie die Sirenen oder Loreley seuselten die Piers es in die ganze Welt: „Kommt alle hierher in diese unberührte Gegend in der Lombardei und geht über den Sebino-See hinüber zur schönen Monte Isola und zur Insel San Paolo. Es ist ein einmaliges Erlebnis, das ihr so nur für kurze Zeit erleben könnt.“
Oder waren es die vielen euphorischen Medienberichte mit Fotos von leeren, goldglänzenden Piers, die sogar in Thailand und Taiwan erschienen? So oder so, wir sind diesen Stimmen gefolgt und haben uns von ihnen verführen lassen.
Fast wie auf dem Oktoberfest
Sulzano war großräumig abgeriegelt und für den Durchgangsverkehr gesperrt. Züge und Busse waren oft überfüllt oder fuhren erst gar nicht, um den Besucherstrom zu lenken. Auch die Parkplatzsuche war ein kleines Abenteuer. Nirgendwo konnte man parken, erst recht nicht gratis, die Standardgebühr für einen Parkplatz weit weg von Sulzano betrug 15 Euro. Überall Polizei und Carabinieri, die einen freundlich, aber bestimmt zu einem offiziellen Parkplatz weiter schickten.
Eine junge Einheimische empfahl uns, die Fähre von Sale Marasino nach Carzano auf der Monte Isola zu nehmen. Von dort aus sollten wir am Ufer entlang bis nach Peschiera Maraglio und da auf die Piers gehen. Ein wertvoller Tipp, weil die Schlange anstehender Besucher in Sulzano sehr lang war.
Nach der kurzen Überfahrt (3 Euro one way pro Person) zur Monte Isola erkannte ich diese nicht wieder. Überall Menschengewusel, Müll am Boden, auch auf den mit gelbem Stoff überzogenen Uferstraßen. Der chaotische Ansturm erinnerte an das alljährliche Oktoberfest in München, ging hier aber besonnener vonstatten, auch weil weniger Alkohol floss. Geduldig wartete an einem öffentlichen Trinkwasserbrunnen eine lange Menschenschlange.
By the way: Das Oktoberfest geht zurück auf die Hochzeitsfeier von Kronprinz Ludwig von Bayern und seiner Verlobten Therese Charlotte Louise von Sachsen-Hildburghausen am 12. Oktober 1810. Fünf Tage lang feierte das Königreich Bayern die Vermählung mit Freibier und einem besonderen Pferderennen. Mit dieser Hochzeitsfeier war das Oktoberfest geboren. Auch hier war also eine Frau mit im Spiel.
Art for art’s sake
Zurück auf die Piers: Schuhe aus und rein in das Gewusel. Das Schwanken der Schwimmwürfel spürte ich nur leicht, auf einem Boot oder kleinen Schiff fühlt sich das viel intensiver an. Barfuß – so wie Christo es empfohlen hatte – tappten wir dahin. Die Sonne brannte von oben, die Tücher unter den Füßen waren nicht mehr ganz frisch, zum Teil aufgerissen und schmutzig, auf jeden Fall ziemlich warm. Bisweilen mussten wir im Slalom gehen und Hindernisse wie Kinderwägen mit Hund oder händchenhaltende Paare „umschiffen“. Etliche waren in größeren Verbänden mit ihren Familienclans auf den Beinen. Ein Familenausflug besonderer Art: „Art for art’s sake“ oder eher Gehen um des Gehens willen?
Laut The China Post vom 4. Juli 2016 soll es täglich auch dutzende Hitzeopfer und andere medizinische Notfälle gegeben haben. Die Sirenen der Rettungswägen waren in der Tat oft zu hören. Zusammen mit dem Lärm der Hubschrauber, die permanent Touristen für 50 Euro pro Person über dem Geschehen kreisen ließen, verlieh dies der Veranstaltung eine besondere akustische Note. Die Füße habe nicht nur ich immer mal wieder im Iseo-See abgekühlt, auch wenn das offiziell nicht erlaubt war. Aber lieber ein Verbot überschreiten als ohnmächtig kollabieren. Vorsichtig musste man dennoch sein, weil es überall Security auf den Piers und in Schlauchbooten gab, die schauten, dass man ja nicht zu nah an die Ränder kam.
Zur Standardausrüstung vieler Christo-Pilger gehörten Rucksäcke wie bei einer Bergwanderung, obwohl es ja nur kleine Wellenberge und -täler gab. Einige hatten ihre Regenschirme zu Schattenspendern umfunktioniert. Je länger manche Damen unterwegs waren, desto mehr mutierten die Piers zu Laufstegen für Dessousmode. Wegen der Hitze hatten sie sich kurzerhand oben herum bis auf die BHs entblättert.
Stoffmuster als Kunstsouvenirs
Dunkel gekleidetes Personal verschenkte Informationsmaterial und orangefarbene, quadratische Stoffstückchen, 7 x 7 cm groß, die heiß begehrt waren. Warum, habe ich erst zuhause erfahren. Über e-Bay werden die Stoffmuster gehandelt und von Leuten gekauft, die an dem Event nicht teilnehmen konnten oder es als spekulatives Kunstobjekt erwerben.
Eine Frau, die ich um ein Muster bat, entpuppte sich als Berlinerin namens Renate und schwärmte immer noch von Christos verhülltem Reichstag anno 1995. Ihr Zimmer hatte sie – im Unterschied zu uns – bereits im Februar 2016 gebucht. Wir mussten mit einem Mobil Home auf einem Campingplatz in Zone oberhalb des Lago d’Iseos vorliebnehmen, weil es sonst keine Unterkünfte mehr gab oder aber überteuert wie in München zu Zeiten des Oktoberfests. Dafür waren wir dann in Zone in der Nähe der Erdpyramiden, die man gesehen haben sollte, solange sie stehen und noch nicht der Erosion oder Verwitterung anheimfallen.
4. Juli 2016, Tag 1 nach dem Event: Giornale di Brescia zeigt auf Youtube immer noch mittels der schwenkenden Webcam Montisola Bilder von den Floating Piers. Sie sind verwaist, fast unheimlich menschenleer und an einer Stelle über dem See schon unterbrochen. Die Schwimmkörper strahlen im Lichte der nächtlichen Scheinwerfer gülden. Schön, wie friedlich der See und die Monte Isola wieder daliegen und sich ausruhen von dem Trubel der vergangenen zwei Wochen. Es ist jetzt fast Mitternacht und immer noch verfolgen das Schauspiel online an die 300 Zuschauer. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Kamera keine Bilder mehr von dort in die Welt ausstrahlt und nur noch Erinnerungen und Emotionen übrig bleiben.
Der Lago d’Iseo vor und nach Christo
Was die Installation geschaffen hat, ist eine gemeinsame Erinnerung all der Menschen, die an dem Ereignis teilgenommen haben, das so nie wieder sein wird. Das hält sie zusammen, das eint sie und bindet sie an den Ort des Geschehens. Mit dem vergänglichen Kunstwerk beginnt am Lago d’Iseo eine neue Zeitrechnung: die vor Christo und die nach Christo. Erst die Zukunft wird zeigen, wie die nach Christo aussehen wird. Ciao, isola bella!
Weitere Informationen
christojeanneclaude.net/the-floating-piers
thefloatingpiers.com
iseolake.info
visitmonteisola.com
*floating plastic* ist eine Wortschöpfung des Designers Hans-Walter Stemmann.
Liebe Jutta,
du hast mal wieder einen erfrischend schönen Reisebericht geschrieben und wunderbare Fotos dazu geliefert.
Vielen Dank.
Brigitte
Liebe Brigitte, vielen herzlichen Dank für Dein Kompliment und Eure Spende. Jeder Euro ist willkommen, um motiviert zu sein und zu bleiben. DANKE an Euch beide!
Liebe Jutta,
ich finde es gut, dass du die „dunkleren“ Seiten dieses Events ansprichst. Ich hab’s mir geschenkt, weil ich ein etwas ungutes Gefühl hatte. Ich war noch nie am Lago d’Iseo. Dass Christo mit Beretta zusammenarbeitet, finde ich schon sehr zweifelhaft. Aber für sein künstlerisches Vermächtnis schaltet er vermutlich moralische Bedenken aus… irgendwie wohl auch zu verstehen aus seiner Sicht.
Viele Grüße, Franz
Ja, Franz, Christo hat noch ein weiteres Projekt „Over The River, Project for the Arkansas River“ in Colorado vor, das nicht unumstritten ist, nachzulesen auf seiner Homepage unter „works in progress“…