Philosophisch reisen – mit allen Sinnen
Zwei Jahre meines Lebens besuchte ich eine Philosophie-Schule. Dort studierten wir die klassischen Philosophen, lernten alte Kulturen kennen und erhielten Einblicke in geheime Wissenschaften. Dadurch erfuhr ich auch viel über mich selbst. Jahre später erschien in dem Magazin „Abenteuer Philosophie“, das diese Schule herausgibt, ein Artikel über die „Kunst des Reisens“. Der Beitrag berührte mich so, dass ich die Autorin Johanna Bernhardt kontaktierte. Hier ihr zeitloser Essay.
Langsam rieselt die Zeit durch die Sanduhr des Alltags. Kalenderblatt um Kalenderblatt löst sich von der Wand und segelt zu Boden. Gespannte Ruhe herrscht in den Fluren und Gängen unserer Normalität. Doch plötzlich, wie auf einen unsichtbaren Befehl, kommt Bewegung in die Erstarrung. Hektisch werden Koffer gepackt. E-Mails gehen hin und her, um das Super-Bestpreis-Last-Minute-Angebot noch zu erwischen. Telefone laufen heiß, um auch dem vierbeinigen Liebling für die kommenden drei Wochen Kost, Unterkunft und Familienanschluss zu sichern. Schlauchboote und Surfbretter werden in letzter Minute auf Hochseetauglichkeit getrimmt. Denn es ist Ferienzeit und das heißt Reisezeit. Reisen, das ist für uns der Inbegriff von Freiheit, Abenteuer, ja von Leben.
Ganzheitlich reisen
Es sind hochgesteckte Erwartungen, die wir an unser Reiseziel, an unsere Reisegefährten und an die kostbarste Zeit im Jahr an sich stellen. Erwartungen, die nicht immer in Erfüllung gehen, ja gar nicht in Erfüllung gehen können, weil wir mitunter das Wichtigste in unserem Reisegepäck vergessen haben: uns selbst.
Reisen allein erweitert nicht den Horizont – es ist unser offener Blick. Reisen allein fördert nicht die Toleranz – es ist unser offenes Herz. Reisen allein bewirkt auch keine Veränderung in uns – es ist unser offener Geist. Doch wer dies alles eingepackt hat, der kann sich auf ein echtes Abenteuer freuen. Ein Abenteuer, das sich „philosophisch reisen“ nennt. Philosophisch reisen heißt, ganzheitlich zu reisen, mit allen Sinnen: den äußeren und inneren.
Ein Fest für die Sinne…
Es ist nicht wichtig, wohin die Reise führt. Für den, der staunen kann, stellt sich die Welt immer in ihrer buntesten Vielfalt dar: ein wunderbarer Kosmos voll von Rätseln und spannenden Entdeckungen. Für den, der glaubt, alles zu kennen und zu wissen, ist dieselbe Welt ein trüber Schauplatz unerfüllter Träume und zäh fließender Langeweile. Worin aber liegt das Geheimnis des wirklichen Reisens? Was ist das für eine Kunst, die der echte Abenteurer beherrscht?
Vielleicht ist es die Kunst des Sehens: Der Blick schweift über die stummen Ruinen von Mykene, und plötzlich tauchen aus den verfallenen Mauern die Zyklopen auf – jene mythischen Gestalten der Odyssee – und richten Stein um Stein zu einem Kunstwerk auf. Der Blick fällt auf ein verblasstes Relief in der Kathedrale von Chartres, und plötzlich heben sich magische Kreise und Spiralen ab, fügen sich zu alchemischen Formeln und lassen die mystische Welt der alten Baumeisterorden wieder erstehen.
Vielleicht ist es die Kunst des Hörens: Wer je den melancholischen Klängen der Straßenmusiker auf der Prager Karlsbrücke zugehört hat, der hat vielleicht verstanden, dass das Herz eines Volkes in seiner Musik schlummert. Und wer sich je von den wirbelnden Trommeln und Gitarren der Anden mitreißen ließ, der hat vielleicht verstanden, dass die Lebenskunst eines Volkes in seiner Musik eingeschrieben ist.
Vielleicht liegt das Geheimnis auch im Geruch: Ob es der warme, harzige Duft eines sonnendurchfluteten Akazienwaldes in Sizilien ist oder der schwere Geruch von Weihrauch in der Kathedrale von Sevilla oder der aromatisch, belebende Duft von frischem Cappuccino auf dem Markusplatz in Venedig, ein Duft, der verzaubert und jene besonderen Stimmungen erweckt, die man nicht beschreiben, sondern nur empfinden kann.
Vielleicht liegt das Geheimnis aber auch in der Fähigkeit zu spüren: Wer je im schaukelnden Zug von Lissabon nach Porto saß, der hat ihn vielleicht gespürt – den Rhythmus des Landes. Und wer je mit nackten Füßen durch das feuchte Gras im Park von Sigurtà gewandert ist, der hat vielleicht gefühlt: Das ist Leben. Reisen ist ein Fest für die Sinne…
…und eine Brücke zu unserem Inneren
Vielleicht sind es aber nicht nur unsere äußeren Sinnesorgane, die durch die vielen neuen und aufregenden Reize in Schwingung geraten. Denn Reisen ist Bewegung und der Impuls im Außen sucht seine Resonanz im Inneren. Viele Menschen erzählen davon, dass es eine Reise war, die ihr Leben verändert hat. Eine Veränderung des Ortes, eine Veränderung des Lebensrhythmus, eine Veränderung im Außen, die zu einer Veränderung im Inneren wurde, eine Reise zum eigenen Ich. Derjenige, der seinem Innersten begegnet ist, der besitzt auch die Weite, um der Welt mit offenen Armen zu begegnen:
Wie ein magisches Band verbindet sich der Westen mit dem Osten, der Norden mit dem Süden – in dem Moment, wo wir verstehen, dass wir voneinander lernen können.
Wie ein unsichtbarer Bogen spannt sich die Geschichte vom Gestern zum Morgen – in dem Moment, wo wir verstehen, dass die Vergangenheit Lehrmeisterin der Gegenwart und Zukunft sein kann.
Wie über eine unsichtbare Brücke berühren sich das Oben und das Unten, Himmel und Erde – in dem Moment, wo wir den Mythen und Geschichten der Völker mit unserem Herzen zuhören. Reisen kann diese Brücke bauen zu unserem Inneren und gleichzeitig zur Welt.
Das Abenteuer braucht den Abenteurer
Viele Menschen bemerken aber nichts von alledem, obwohl sie bestens gerüstet, bestens vorbereitet ihre Reise antreten. Zu sehr sind sie damit beschäftigt, ihre wohl durchdachte Urlaubsbilanz in der Balance zu halten: die Zahl der besuchten Sehenswürdigkeiten und der geknipsten Fotos auf der Habenseite; die Zahl der verpatzten Abendessen, verspäteten Flüge und der Regentage auf der Sollseite. Zu sehr sind sie damit beschäftigt, ihren gewohnten Lebens- und zugleich Alltagsrhythmus auch unter „schwierigsten“ Bedingungen aufrechtzuerhalten. Zu sehr sind sie damit beschäftigt, über ihre Laptops und Handys die Anbindung an die so genannte Realität nicht zu verlieren. Denn die Gesetzmäßigkeiten unserer Profit-Gesellschaft sind längst zum Rhythmus des Einzelnen geworden, und das Kettenhemd aus Kreisgedanken, Sorgen und latenter Nervosität kann man nicht einfach am Check-in-Schalter des Flughafens abgeben – nur weil Urlaubszeit ist.
»Das Leben ist wie ein Buch, und wer nicht reist, liest nur ein wenig darin.« Jean Paul
Philosophisch reisen bekommt man nicht auf Rezept in der Apotheke. Philosophisch reisen ist auch kein Adventure-Trip, den man im Reisebüro buchen kann. Denn das Abenteuer braucht den Abenteurer. Philosophisch reisen setzt voraus, dass wir zuallererst dem Philosophen, der in jedem von uns schlummert, eine Chance geben. Und philosophisch reisen setzt auch voraus, dass wir damit nicht auf die Ferienzeit warten, sondern jede Gelegenheit nutzen, um ein bisschen mehr Philosoph im Alltag zu sein.
Johanna Bernhardt, Gastautorin dieses philosophischen Beitrags, studierte Geographie und Wirtschaftspädagogik. Sie ist im Bereich „Bildung & Nachhaltigkeit“ tätig und mehr als 20 Jahre ehrenamtlich im Verein Treffpunkt Philosophie.
Ihr besonderes Interesse: Gemeinsamkeiten in der Vielfalt der Kulturen aus Ost und West. Ihre Liebe zum Reisen: das Andere kennen lernen und entdecken, dass wir als Menschen so Vieles teilen.
Wunderschöner Text!!
Danke, Moni, Du hast eine interessante Seite!
Liebe Jutta, herzliche Herbstgrüße aus Wien. Danke für den letzten herrlichen Beitrag über Reisen und Philosophie. Ich selber komm‘ nur im nahen Umkreis herum aus verschiedenen Gründen. Doch, doch viele kleine Ereignisse der Wahrnehmung wiegen es auf, dass mir das Staunen nicht ausgeht. Alles Liebe, Waltraud
Wenn es um die Kunst des Reisens, vor allem mit allen Sinnen, geht, möchte ich doch gleich ein Wort, das unserem Altmeister der Dichtkunst zugeschrieben wird, einfügen, nämlich „Nur wo du zu Fuß warst, warst du wirklich!“
Allerdings kann man selbst dabei beim Oberflächlichen stecken bleiben, insbesondere wenn man mit Gruppen unterwegs ist; denn da wird sehr viel Aufmerksamkeit in völlig andere Richtungen abgezogen: Da wird in großem Umfang über andere Leute, Vergangenes, Krankheit usw. geredet. Daher ergänze ich persönlich diese Aussage mit dem Wort bewusst – also „Nur wo du bewusst zu Fuß warst, warst du wirklich!“
Ferner empfinde ich im allgemeinen viele Reiseberichte – auch den Beitrag von Johanna Bernhardt – manchmal zu anthropozentrisch-kulturbezogen. Ich vermisse häufig den Blick auf das Wunderwerk der Schöpfung, die doch das allergrößte Kunstwerk ist!!!!
So stellt auch Rainer Maria Rilke bedauernd fest: „Die meisten Menschen wissen gar nicht, wie schön die Welt ist und wie viel Pracht in den kleinsten Dingen, in einer Blume, einem Stein, einer Baumrinde oder einem Birkenblatt sich offenbart.“ Warum wissen die meisten Menschen das nicht? Weil sie da gar nicht hinschauen, heute vermutlich weniger als damals. Für die meisten ist die Landschaft Nutzfläche, Kulisse, Spielplatz für immer verrücktere Sportarten. Und beim (auch kulturellen) Reisen werden mit dem Fahrzeug riesige Strecken sowie tausend Kirchen Museen usw. abgeklappert.
Geistesgrößen wie Christian Morgenstern können uns da etwas vermitteln, wenn er sagt:
„Jede Landschaft hat ihre eigene, besondere Seele – wie ein Mensch, dem du gegenüber lebst.“
Ja, und ich nehme immer wieder wahr, dass naturnahe Landschaft Nahrung für meine Seele ist!
Und wie herrlich Natur und Seele zu verbinden mögen, kommt in Jean Pauls (übrigens ein oberfränkischer Dichter!) Wort zum Ausdruck:
„Wenn der reiche Frühling sich vor mir die Ebenen hinablagert und Wälder und Schmetterlinge und Blumen auf dem Schoße hält – und wenn es überall rauschet wie von einem herabkommenden unendlichen Leben – und wenn die Wasserwerke und Getriebe der Schöpfung wie in einem Bergwerk donnernd auf- und niedersteigen – und wenn das weite wogende Leben sich nach Jugend und Ferne und nach Süden drängt, wie die Polarmeere nach dem heißen Erdgürtel: So führen die Wogen wieder das Menschenherz mit sich fort, und es will in die Ferne und in die Zukunft, und ich blicke schmachtend nach den fernen dunkeln Bergen gleichsam wie nach den Jahren, die in der Zukunft ruhen – – – aber dann ruft plötzlich etwas mir zu: Erwache, nimm Abschied von der Zukunft und liebe die Gegenwart!“
(Da hat Jean Paul viel Ökologie mit seinen Sinnen erfasst und schließlich in seiner Seele verarbeitet und eingelagert!)
Und mit welch einer Erhabenheit erkennt der Indianer die Vernetzung alles Seins: z.B. im Segensgebet des Volkes der Navajo:
Ich werde für immer glücklich sein
Nichts kann mich daran hindern.
Ich gehe, und Schönheit ist vor mir.
Ich gehe, und Schönheit ist hinter mir.
Ich gehe, und Schönheit ist über mir.
Ich gehe, und Schönheit ist unter mir.
Ich gehe, und Schönheit umgibt mich, wohin immer ich gehe.
Ich gehe, und Schönheit ist in mir.
Schön sind auch meine Worte.
Ich stelle mir jetzt die Schönheit des Lebens vor.
Ich fühle sie in meinem Inneren, wenn ich das Gebet spreche.
Je mehr Heil-Sein ich ausstrahle, desto stärker wird meine Heilkraft.
Jetzt gehe ich durch das Leben in Schönheit.
Alles ist vollendet in Schönheit!
Alles ist vollendet in Schönheit!
Alles ist vollendet in Schönheit!
Alles ist vollendet in Schönheit!
Ja, das möchte ich unbedingt ergänzen!
Lieber Rolf, schöne Zitate, die Du anführst. Aber Deine Bewertung des Beitrags als „antropozentrisch-kulturbezogen“ kann ich nicht nachvollziehen. Der Beitrag gefällt mir und ist in sich stimmig. Jutta
Liebe Jutta,
der Artikel spricht mir aus der Seele. Mit diesem wundervollen Beitrag erlebe ich meine Reisen noch einmal und reflektiere. Ich kann nur sagen: Auf Deiner Seite zu lesen, bringt immer eine Fülle an Informationen und macht auf sinnliche Art neugierig. Herzlichen Dank Dir und Johanna Bernhardt!
Brigitte