Eine wahre Weihnachtsgeschichte

„Wunder, Wunder, Wunder“
Auf später Versöhnungsreise mit meiner Mutter

2018 war für mich ein Umbruchs- und Schicksalsjahr. Seit dem letzten Artikel „Swinging Easter – Let’s dance!“ vor neun Monaten ist viel passiert. So lang brauchte ich auch, bis ich wieder in der Lage war zu schreiben.

Auf zu neuen Horizonten

Reinhold Schneider hat sich nach einer gemeinsamen Marokko-Reise im April endgültig als Gefährte von mir und als Mitstreiter von Reisen heilt! verabschiedet. Fast 15 Jahre haben wir gemeinsam die Welt bereist, die letzten vier Jahre darüber online auf Reisen heilt! berichtet und auch schon vorher lange für diverse Printmedien gearbeitet. Dies ist nun der letzte Artikel, bei dem er mich mit seiner Kompetenz in WordPress und als Layouter unterstützt. Für rund vier Jahre ehrenamtliches Engagement im Dienste von Reisen heilt! herzlichen Dank, lieber Reinhold!

Omen für 2019

Wie es mit dem Online-Auftritt von Reisen heilt! weitergeht, ist noch offen. Neues Jahr, neues Glück? Bei meiner ersten Fahrt im TGV (Train à Grande Vitesse), dem französischen Hochgeschwindigkeitszug, von Karlsruhe nach München am zweiten Adventswochenende stand auf einer Tür „Vers de nouveaux horizons“, also „Auf zu neuen Horizonten“. Vielleicht ist dies auch das Omen für 2019 – who knows?

Über Mütter und Töchter

Der zweite große Umbruch in diesem Jahr begann Mitte Februar, als ich meine Mutter aus einem inneren Drang heraus spontan in ihrem Haus in der Nähe von Speyer besuchte. Wir hatten uns jahrelang nicht gesehen, auch weil sie mir den Kontakt zu meinem geliebten Vater in seiner letzten Lebensphase vorenthalten hatte. Als ich meinen bereits erkrankten Vater einmal zu einer Schifffahrt auf dem Rhein abholen wollte (dazu war ich vier Stunden zu ihm angereist), ließ sie mich nicht mehr ins Haus. Es war das letzte Mal, dass ich ihn lebend durch die verglaste Terrassentür sah: ein gebrochener Mann, der nur noch seinen Frieden wollte. Ich konnte mich nicht mal mehr von ihm verabschieden, als er im Heim war und dort starb, was ich alles erst posthum erfuhr.

Seit meinem ersten Besuch im Februar habe ich meine Mutter noch vier weitere Male besucht, immer unangemeldet, damit meine Geschwister dies nicht verhindern konnten. Sie haben mithilfe eines Anwalts versucht, meine Kontakte zu meiner Mutter zu reglementieren.

Späte Aussöhnung 

Das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter, die nur 21 Jahre älter ist als ich, war, solange ich zurückdenken kann, leidvoll angespannt bis traumatisierend. Ich habe darunter sehr gelitten. Stets habe ich mich um ihre Liebe bemüht und um sie gekämpft. Wie gern hätte ich sie als Freundin gehabt, doch das war nicht möglich. Ich musste mich aus ihrem dominanten Machtbereich entfernen und habe früh ihr Haus verlassen, zog in die Welt und dann nach München.

Aus dem wunderschönen Bildband „Mein Herz glaubt immer noch an Wunder“ von Margret Häckl.

Erst jetzt in ihrer letzten Lebensphase, wo sie ihr früheres, kontrollierendes, herrschsüchtiges und für mich destruktives Ego wie eine zu eng gewordene Haut abgestreift hat, ist Nähe zwischen uns möglich. Erst jetzt, wo sie im Heim lebt (auch dies habe ich nur über Umwege und hilfsbereite Dritte erfahren) und auf Hilfe von außen angewiesen ist, ist sie auch offen für Liebeszuwendungen von mir und nimmt diese an. Nach all den Jahrzehnten ohne mütterliche Liebe, ohne Annahme meiner Person und ohne ein positives, anerkennendes Wort auch für das, was ich tue („Das ist doch brotlose Kunst!“), grenzt das für mich an ein Wunder, mit dem ich nicht (mehr) gerechnet habe und wofür ich unendlich dankbar bin. Das Schicksal hat mir die Aussöhnung mit meiner Mutter noch zu ihren Lebzeiten geschenkt.

Eigeninitiativ und aktiv

Dafür habe ich in diesem Jahr aber auch viel unternommen: mich auf den langen Weg zu ihr aufgemacht – so oft wie all die Jahrzehnte zuvor nie – trotz Hindernissen, Verboten und ständiger Ungewissheit, was mich vor Ort erwartet. So stand ich an einem heißen Tag im Juli nach vierstündiger Zug- und Busfahrt vor ihrem verschlossenen Haus und musste sie erst mal auf Verdacht in der Umgebung suchen. Schließlich fand ich sie in einem Stift in Speyer, wo sie zur Kurzzeitpflege war, was mir niemand gesagt hatte, auch nicht meine Geschwister. Sie stehen auf der Seite meiner Mutter, weil sie von ihr profitieren. Und dann geschieht doch noch aus heiterem Himmel ein solches Wunder.

Auf Wundersuche

Manche suchen ein Wunder, weil sie erkrankt sind und wieder heil werden möchten. Sie gehen wie der österreichische Reisereporter Thomas Bruckner auf „Wundersuche“ rund um die Welt. Über seine Erfahrungen mit „Heilern, Geblendeten und Scharlatanen“ hat er ein interessantes Buch geschrieben. Manche beten um Heilung, dass ein Wunder geschehen möge und sie wieder gesund werden. Schwester Maria von den Ritaschwestern in Würzburg, die ich im Juni besuchte, hat für mich und meine Mutter gebetet. Meine Cousine sagte mir oft, ich solle an ein Wunder glauben. Ich habe nicht bewusst danach gesucht. Das Wunder hat mich gefunden, es hat sich in meinem Leben eingefunden, vielleicht weil ich so lange unter Liebesentzug gelitten habe und mich nach Angenommensein von meiner Mutter sehnte.

Meine Mutter bei der Nikolausfeier im Heim: Ich schenkte ihr diesen rosa Elefanten. Er soll ihr Kraft in ihrer letzten Lebensphase geben.

„Wunder, Wunder, Wunder“…

…murmelt meine Mutter manchmal, wenn ich sie einige Tage am Stück im Heim besuche, um die gemeinsame Zeit mit ihr nachzuholen, die wir früher nicht hatten. Wir sind auch nie zusammen verreist. Ihr Kopf schaut nur noch geradeaus, den starren Tunnelblick hat sie durch die starken Medikamente, die man ihr gibt und die sie angeblich nehmen muss. Ihr Gesicht ist mumienhaft verzerrt und entstellt. Warum werden viele Menschen in unseren Altenheimen so ruhig gestellt, dass sie fast nur noch apathisch dahindämmern? Ich bin mir sicher, dass es auch anders geht. Der Film „Zeit des Erwachens“ mit Robert de Niro und Robin Williams hat es auf humorvoll-menschliche Weise gezeigt.

Doch ich kann das alles jetzt nicht mehr ändern, ich habe dazu auch keine Befugnis. Meine Mutter wollte es so, als sie noch ihr altes machtvolles Ego hatte und die Vollmacht an meine beiden jüngeren Geschwister delegierte. Ich als ihre älteste Tochter war die ungeliebte, böse Tochter, die daran schuld war, dass sie ihr eigenes Leben verpfuscht hatte. Meine Mutter sagte mir oft – wie zu ihrer eigenen Rechtfertigung, dass sie alle drei Kinder gleich lieb habe. Aber das war nicht so, sie hat uns drei gegeneinander ausgespielt. Mein Leben lang musste ich dafür büßen und bekam es zu spüren, dass ich mit meinem Vater, ihrem Ehemann, den sie nicht liebte, gut auskam. Doch ich liebte beide, sie waren meine Eltern, auch wenn ihre Ehe nicht harmonisch war. Kein Kind sollte für die zerrüttete Ehe seiner Eltern herhalten müssen. Es liegt nicht in seiner Verantwortung und darf auch nicht an ihm ausgelassen werden!

Weihnachten – das Fest der Liebe und des Vergebens

Weiße Rose von Margret Häckl.

Meiner Mutter und mir bleibt nicht mehr viel Zeit miteinander, es ist unsere letzte gemeinsame Reise. Gott sei Dank noch zu Lebzeiten! Über die Weihnachtstage möchte ich wieder bei ihr im Heim sein: ihr zu essen und zu trinken geben, sie in ihrem Gehwagen begleiten, sie im Rollstuhl schieben, an ihrem Bett sitzen, wenn sie kurz nach Einnahme der Schlaftablette spätestens gegen 18:30 Uhr wegdämmert. Ich bin mir sicher, dass sie es spürt, wenn ich über ihre geschlossenen Augen, Wangen und angestrengte Stirn streiche, sie glätte und ihr zuflüstere, dass jetzt alles gut ist, dass ich bei ihr bin und solange bei ihr bleibe, wie es mir möglich ist, bis sie Ruhe und Frieden gefunden hat… und auch ich meinen Frieden in mir und mit ihr.

„Immer, wenn zwei Menschen einander verzeihen, ist Weihnachten.
Immer, wenn Ihr anderen helft, ist Weihnachten.
Immer, wenn ein Kind geboren wird, ist Weihnachten.
Immer, wenn Du versuchst, Deinem Leben einen neuen Inhalt zu geben,
ist Weihnachten.

(…)
Und ich wünsche Dir,
dass jemand für Dich da ist, wenn Du jemanden brauchst,
dass Dir jemand zuhört, wenn Du reden möchtest,
dass Dich jemand hält, wenn Du traurig bist,
dass immer jemand Deine Freude teilt,
dass Du jeden Tag Weihnachten feiern kannst.“
(Aus Brasilien)


Literaturempfehlungen 

Erst während der Recherche zu diesem Beitrag stieß ich auf ein Buch von Susan Forward und Donna Frazier Glynn, das sich mit dem Thema „Wenn Mütter nicht lieben. Töchter erkennen und überwinden die lebenslangen Folgen“ auseinandersetzt. Die vielen überwiegend positiven Rezensionen zeigen, dass es eines der wenigen Bücher zu sein scheint, das sich auch mal der unverstandenen und ungeliebten Töchter annimmt, die mit einer zur Liebe unfähigen, womöglich sogar psychisch kranken Mutter aufgewachsen sind. Sicherlich ein lohnenswerter Lesestoff und für manche schon große Tochter eine Offenbarung.

Colin C. Tipping
Ich vergebe – Das Praxisbuch. 25 praktische Anwendungen für Radikale Vergebung

Claudia Haarmann
Mütter sind auch Menschen. Mütter und Töchter begegnen sich neu

Signe Hammer
Töchter und Mütter. Über die Schwierigkeiten einer Beziehung

Barbara Frank
Ich schau in den Spiegel und sehe meine Mutter. Gesprächsprotokolle mit Töchtern

Hans-Joachim Maaz
Der Lilith -Komplex: Die dunklen Seiten der Mütterlichkeit

P.S.
Heribert Bönig machte mich darauf aufmerksam, dass es in dem Buch Ein Kurs in Wundern folgende „Grundsätze von Wundern“ gibt:

∗ Es gibt keine Rangordnung der Schwierigkeit bei Wundern. Alle sind gleich.
∗ Wunder als solche, spielen keine Rolle. Das Einzige, was eine Rolle spielt, ist ihre Quelle, die jenseits der Bewertung ist.
∗ Wunder geschehen auf natürliche Weise, als Äußerungen der Liebe. Das wirkliche Wunder ist die Liebe, die sie inspiriert. In diesem Sinne ist alles, was aus der Liebe kommt, ein Wunder.
∗ Wunder sind Gewohnheiten und sollten unwillkürlich geschehen. Sie sollten nicht unter bewusster Kontrolle stehen. Bewusst ausgewählte Wunder können fehlgeleitet sein.
∗ Wunder sind natürlich. Wenn sie nicht geschehen, ist etwas fehlgegangen.
∗ Auf Wunder hat jedermann Anrecht, aber zuerst ist Läuterung nötig.
∗ Wunder sind eine Art von Austausch. Sie bringen dem Gebenden und dem Empfangenden mehr Liebe.
∗ Wunder sind Gedanken.
∗ Wunder heben die Vergangenheit und die Gegenwart auf und befreien auf diese Weise die Zukunft.
∗ Wunder sind überzeugend, weil sie aus Überzeugung entstehen.
∗ Wunder transzendieren den Körper. Deswegen heilen sie.
∗ Ein Wunder ist ein Dienst. Es ist der maximale Dienst, den du einem anderen erweisen kannst.
∗ Wunder sind natürliche Zeichen der Vergebung.
∗ Wunder ordnen die Wahrnehmung neu.
∗ Wunder stellen Freiheit von Angst dar.
∗ Wunder sind eine Art und Weise, Befreiung aus der Angst zu verdienen.
∗ Wunder sollten Dankbarkeit erwecken, nicht Ehrfurcht.
∗ Wunder sind Äußerungen der Liebe, aber möglicherweise haben sie nicht immer beobachtbare Wirkungen.
∗ Das Wunder löst den Irrtum auf.
∗ Wunder entstehen aus einen wunderbaren Geisteszustand oder einem Zustand der Bereitschaft für Wunder.
∗ Ein Wunder geht niemals verloren.
∗ Das Wunder unterscheidet nicht zwischen Graden der Fehlwahrnehmung.
∗ Das Wunder vergleicht, was du gemacht hast, mit der Schöpfung, wobei es als wahr akzeptiert, was mit ihr in Einklang steht, und das als falsch zurückweist, was nicht mit ihr in Einklang steht.

2 Gedanken zu „Eine wahre Weihnachtsgeschichte“

  1. Liebe Jutta, eine ergreifende Geschichte!
    Wünsche Dir noch eine gute Zeit mit Deiner Mutter, so dass ihr dann in Frieden auseinander gehen könnt, sollte der Abschied für immer kommen. Es freut mich, dass meine Bilder in Deinem Artikel so einen schönen Platz gefunden haben.
    Alles Liebe, Margret

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  2. Schön, dass du dieses Wunder erleben konntest. Und schön, dass du es mit-teilen kannst.
    Manchmal führt ein schmerzlicher Verlust dazu, dass sich neue-alte Türen öffnen.
    Das nennt man wohl L E B E N. Liebe Jutta, alles Gute für 2019!

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