Head Reisi – Gute Reise nach Estonia!
Von der singenden zur digitalen Revolution
Es ist das nördlichste der drei baltischen Länder: klein, aber auch sehr fein. Die Ostsee umspült es im Norden, Westen und Südwesten, seine Küstenlinie erstreckt sich auf über 3.800 Kilometer Länge. Estland hat über 1.000 Seen und rund 1.500 Inseln. Die Esten sind traditionsbewusst und fortschrittlich zugleich.
„The winner is …. Estonia“, tönte es 2001 beim Eurovision Song Contest aus dem Fernseher. Ein klangvoller Name, dachte ich mir damals, doch wo liegt nur dieses Estonia? Aha, Estland lautet der deutsche Name und liegt im Baltikum an der Ostsee. Jahre später schwärmte mir eine junge indische Tänzerin von ihrer Reise nach Tallinn, der Hauptstadt Estlands, vor. Begeistert erzählte sie von einem kreativen Aufschwung, wie sie es in keinem anderen europäischen Land bisher kennen gelernt habe. Das machte mich neugierig. Was ist dran an ihrer Aussage? Das will ich selbst herausfinden und mache mich auf in den hohen Norden.
Nur der Finnische Meerbusen trennt Estland von Finnland, gerade mal 85 Kilometer liegt Tallinn von Helsinki entfernt. Die Nähe Estlands zu seinem skandinavischen Nachbarn Finnland ist sprachlich und kulturell weit größer als die zu seinem baltischen Nachbarn Lettland im Süden oder gar zum großen Nachbarn Russland im Osten. Was vor allem auch mit der wechsel- und leidvollen Geschichte Estlands zu tun hat, das rund 770 Jahre unter Fremdherrschaft stand.
Estnisch, Finnisch, Ungarisch und Ostseefinnisch
Kristiina, Estin, jung, nordisch blond und dynamisch, holt mich am Flughafen ab. Sie will mir ihr Tallinn zeigen. 400.000 Bewohner, rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung, lebt hier. Ich frage sie nach dem Doppelvokal in ihrem Namen. Kristiina: „Das ist typisch für die estnische Sprache.“ Estnisch gehört nicht wie die meisten Sprachen in Europa zur indogermanischen Gruppe, sondern mit Finnisch und Ungarisch zur finno-ugrischen Sprachfamilie. Daraus entwickelten sich die Ostseefinnischen Sprachen, wozu auch Estnisch zählt, die Muttersprache von rund einer Million Menschen. Hört man sich die estnische Sprache etwas genauer an, kommen einem viele Wörter bekannt vor.
Endlich frei und unabhängig
Deutsch war bis 1885 Unterrichts- und Behördensprache, die russisch-zaristische Regierung löste sie durch Russisch ab. Bis 1816 waren estnische Bauern Leibeigene unter den Deutschbalten und russischen Gutsherren. 1710 eroberte der russische Zar Peter I. Estland, bis 1917 währte die zaristische Herrschaft. Infolge des Hitler-Stalin-Pakts wurde Estland mit Lettland und Litauen 1940 in die Sowjetunion eingegliedert. Der Zerfall der UdSSR befreite auch Estland. Am 20. August 1991 erklärte es seine Unabhängigkeit. 2004 wurde es EU- und NATO-Mitglied und erhielt 2011 den Euro.
Seither holen die Esten nach und auf, was ihnen vorher verwehrt war. Mit einer Dynamik, Frische und Offenheit ermöglicht der „Tiigrihüppe“ seit Mitte der Neunziger Jahre jedem Bürger den persönlichen „Tigersprung“ in die digitale Gesellschaft und Vernetzung. So haben die Esten das Recht auf kostenlosen Internet-Zugang, können ihre Politiker mit dem digitalen Personalausweis wählen (E-Voting und E-Government mit ID-Karte), ihre Behördengänge über das Internet erledigen, ihre Steuererklärungen einreichen (E-Tax) und mit dem Handy bezahlen (E-Banking). Auch sonst die Esten in Sachen Architektur, Design, Kunst und (Ess-)Kultur Trendsetter und Pioniere, nebenbei haben sie Skype entwickelt.
Singende Revolution und estnisches Sängerfest (Laulupidu)
Zu ihrer Unabhängigkeit trugen die Esten auch durch ihren singenden Widerstand bei, denn schon allein das Singen estnischer Volkslieder und der Nationalhymne war ihnen von den Russen verboten. Die „Singende Revolution“ in den Jahren 1987/88 befreite die Menschen auf friedlichem Weg. Um für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten zu demonstrieren, bildeten am 23. August 1989 etwa zwei Millionen singende Menschen die Baltische Kette oder den „Baltischen Weg“. Er erstreckte sich über eine Länge von 600 Kilometern: von Tallinn in Estland über Riga in Lettland bis nach Vilnius in Litauen.
Singen hat hier eine lange Tradition. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben Sängerfeste das Bewusstsein für die estnische Kultur und die nationale Identität gestärkt. 1869 fand das erste estnische Sängerfest in Tartu – damals Dorpat – statt. Seitdem wird dieser für die Esten fast heilige Ritus alle fünf Jahre vollzogen. Dann treffen sich auf einer der weltweit größten Veranstaltungen für Laienchöre Tausende von Sängern in farbenfroher Tracht auf der Sängerfestwiese in Tallinn, zuletzt im Juli 2014 unter dem Motto „Von Zeiten berührt. Zeit zum Berühren“. 2014 kamen 33.000 Chorsänger und –sängerinnen zusammen, um vor einem 70.000-köpfigen Publikum aufzutreten. 2019 findet das nächste große Sängerfest „Laulupidu“ statt. Die UNESCO hat es als ein Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit anerkannt.
Tallinn gestern und heute
Von vergangenen Zeiten berührt, fühle ich mich auch bei meinem Rundgang durch Tallinns mittelalterliche Altstadt. Wir starten bei der Dicken Margarethe, einem Verteidigungsturm aus dem frühen 16. Jahrhundert, und passieren in der Pikk-Straße einige herrschaftliche Gildehäuser. Vorbei an der ältesten noch betriebenen Apotheke Europas gelangen wir zum Rathausplatz. Im Rathaus befindet sich das älteste Café Tallinns, es ist urig eingerichtet, aber auch düster, früher war darin eine Folterkammer.
Über Lühike jalg (Kurzes Bein) steigen wir hoch auf den Domberg. Hier konzentrieren sich viele historische Gebäude und Kirchen. Im Schloss ist heute das estnische Parlament zuhause, jeden Morgen wird auf dem Turm Pikk Hermann (Langer Hermann) die blau-schwarz-weiße Flagge zur Nationalhymne gehisst. Von mehreren Aussichtsplattformen ist der Blick auf die Alt- und Neustadt, die Stadtmauer mit ihren vielen Türmen, den Hafen, die Talliner Bucht und die Ostsee grandios. Über Pikk jalg (Langes Bein) gehen wir wieder hinunter in die Unterstadt und flanieren durch den malerischen Katharinengang, wo man viel Kunst(handwerk) findet.
Nach einer Nacht im altehrwürdigen Hotel Telegraaf erkunden wir das moderne Tallinn: das Rotermannviertel mit seinem kontrastreichen Mix aus alten Fabrikgebäuden und avantgardistischer Architektur; Kalamaja, das historische Fischerviertel, heute ein charmantes Wohngebiet mit rund 500 farbenfrohen Holzhäusern, auch „Tallinn-Häuser“ genannt, die vor allem bei jungen Künstlern beliebt sind. In den ehemaligen Hangars des Wasserflughafens gibt es seit Mai 2012 das Hightech-Meeresmuseum „Lennusadam“. Auf über 7000 Quadratmetern Ausstellungsfläche erhält man einen multimedialen Einblick in die Seefahrtgeschichte und kann das legendäre U-Boot Lembit auch von innen bestaunen.
So isst der Este
Die Speisen sind eine Mischung aus deutscher, russischer und estnischer Küche, bodenständig und kreativ. Es gibt sogar eine Brotkultur und ein Kamamehl, das aus allen Getreidesorten vermischt und gemahlen wird. Man rührt es in Sauermilch ein und genießt es als salziges oder süßes Sommergetränk. Fisch gibt es in allen Varianten: geräuchert, getrocknet und eingelegt, zum Beispiel als gewürzte baltische Heringe, gebratene Sprotten und Strömlinge, schlangenartige Neunaugen.
Hochmoore und Hochprozentiges
Nach so viel Stadt brauchen wir Natur und fahren etwa 80 Kilometer Richtung Nordosten in den Nationalpark Laheema, auf Deutsch: Land der Buchten, womit die Buchten zwischen den vier Halbinseln gemeint sind, die wie Finger in die Ostsee hineinragen.
Laheema wurde 1971 als erster Nationalpark in Estland und der ehemaligen Sowjetunion gegründet. Er ist 725 Quadratkilometer groß, fast ein Drittel davon macht das Meer aus, zwei Drittel des Landes sind mit Wald bedeckt. Es gibt Hochmoore, Auwiesen, Küstenweiden und Alvare mit einer Vielfalt an Tieren und Pflanzen, die hier Zuflucht gefunden haben und geschützt sind. Wir entdecken an der Küste malerische Fischerdörfer mit reetgedeckten Häusern. In Käsmu, einem idyllischen Kapitänsdorf an der Ostsee, besuchen wir das urige „Meremuuseum“ von Aarne Vaik. Er hat hier viele große und kleine Schätze ausgestellt, die er im Laufe seines Lebens gesammelt hat. In seinem maritim eingerichteten und licht durchfluteten Speisezimmer mit Blick aufs Meer bewirtet er uns persönlich und zeigt uns stolz ein echtes Wikingerschwert.
Südlich von Altja gibt es zwei Gutshöfe bzw. Herrenhäuser: Sagadi Manor und Vihula Manor. Auf letzterem wird man in der hauseigenen Schnapsbrennerei in die Geheimnisse der Wodka-Herstellung eingeweiht und kann sogar ein Stamperl Wodka mit Apfel und Zimt kosten. Terviseks! Prost! Wer einmal feudal bis luxuriös in einem Herrenhaus übernachten und dinieren möchte, ist in Estland genau richtig. Wir haben es auf halbem Weg nach Pärnu in Kau Manor ausprobiert, wo der Seefahrer Otto von Kotzebue in seinen letzten Jahren lebte.
Der Kuurort Pärnu an der Ostsee
Einmal quer durchs Land und wir sind in Pärnu an der Westküste, genau richtig für einen traumhaften Sonnenuntergang über der Ostsee. Seit 1996 ist Pärnu die Sommerhauptstadt Estlands. Sie hat eine lange Bädertradition und feierte 2013 ihren 175. Geburtstag als „Kuurort“ (estnisch für Kurort).
Pärnu ist Mitglied im Europäischen Heilbäderverband. Alles, was gesund ist und mit Wasser, Schlamm, Moor, Sauna, Spa und Wellness zu tun hat, ist hier möglich. Festivals gibt es in Pärnu und in den Orten entlang der 250 Kilometer langen romantischen Küstenstraße Pärnumaa (Maa = Land) wie Sand am Meer: Löwenzahnfestival, Saure-Gurken-Festival, Sonnenuntergangsfestival Kabli, Bierfestival Oktoobervest, Pilzfestival und sogar ein Eisfestival.
Ein Erlebnis besonderer Art ist der Besuch eines Hochmoors. Auf Bretterwegen taucht man in eine stille, unberührte Landschaft ein, kann im Frühjahr und Herbst Schwärme von Zugvögeln fliegen sehen, im Sommer in Moorseen schwimmen, Wildtiere beobachten, Hochmoorbeeren pflücken und mit Moor- oder Schneeschuhen sogar dahin gelangen, wo sonst kein Weg hinführt. Fast alles geht in Estonia, es will nur entdeckt werden. Head Reisi – Gute Reise!
Zu der Reise nach Estland hatte das Estonian Tourist Board im September 2013 eingeladen.
Weitere Informationen
Estonian Tourist Board/ Enterprise Estonia
www.visitestonia.com
www.westestonia.com
Broschüre „Estland entdecken – Hier blüht das Leben“ als pdf: http://campaign.visitestonia.com/201004_flashbrochure/travelGuide_11march_GER.pdf
Ein beeindruckender Flug über das Gelände der Sängerfeste: „Fly over Tallinn Song Festival Grounds”
Im Laheema Nationalpark kann man zwischen Mai und September auch mitten in der Natur in Holzhäusern preisgünstig übernachten, grillen, saunen und fischen: www.haaviku.edicypages.com/en
Von den rund 1500 Inseln Estlands sind etwa 20 bewohnt. Die größten und bekanntesten sind Saaremaa, Hiiumaa und Muhu. Die Insel Kihnu (mit ihren eigenständigen Frauen und ihrer traditionellen Lebensart) gehört seit 2003 zum UNESCO-Kulturerbe.
Fährverbindungen
http://tuulelaevad.ee/index.php?lang=en
http://www.veeteed.com/index.php?keel=2
Flugverbindungen nach Estland
Es gibt mehrere Möglichkeiten, nach Tallinn zu fliegen: über Helsinki (Finnair), Riga (Air Baltic), Frankfurt (Lufthansa), Kopenhagen (Estonian Air + SAS), Amsterdam (Estonian Air + KLM).
Direktflüge gibt es nur ab Frankfurt (LH), Fra-Hahn (Ryanair), Düsseldorf/Weeze (Ryanair) und Bremen (Ryanair).
Mit Estonian Air, der Deutschen Lufthansa und Ryanair können Flugreisende bequem direkt nach Tallinn fliegen. Von Berlin-Tegel starten Maschinen montags, mittwochs und samstags, von Düsseldorf-Weeze montags und freitags sowie täglich von Frankfurt am Main; im Sommerflugplan ab 30.03.2015 auch von Bremen samstags und dienstags. Mehr Informationen unter: estonian-air.com, lufthansa.com und ryanair.com.
2 City-Breaks in einem: Tallinn 2 Tage + Helsinki 2 Tage (Man fliegt nach Tallinn und kommt aus Helsinki zurück oder umgekehrt , mit Finnair) oder Tallinn + Riga (Flug nach Tallinn und zurück aus Riga oder umgekehrt, mit Air Baltic).
EDEN (European Destinations of Excellence)
http://www.visitestonia.com/de/urlaubsziele-in-estland/eden-european-tourist-destinations-of-excellence-edenhttp://www.visitestonia.com/de/fur-urlaub/stadtfuhrerhttps://www.facebook.com/visitestonia.de#