Paradiesisches

„Saxonia Paradise“ – nicht nur mich lockte das „Sächsische Paradies“, auch meinem Koffer verlieh es Flügel.

Mythos Pressereisen: lost (in) paradise

Ich schreibe am liebsten über Reisen, die ich unabhängig auf eigene Faust und eigene Kosten mache. Erst im Nachhinein entscheide ich dann, ob ein Bericht lohnenswert ist oder ob es eine interessante Geschichte gibt. Hier in diesem virtuellen Lebensreisemagazin finden Sie auch solche „independent (travel) stories“.

Andere Berichte entstehen nach mehrtägigen Pressereisen, die verschiedene Veranstalter manchmal sogar inklusive An- und Abreise kostenfrei anbieten. Oft sind letztere aber selbst zu zahlen. So auch bei der Städtereise nach Chemnitz im Dezember 2015. Warum also nicht zwei meiner Fernbus-Tickets für je 9 Euro dafür einsetzen, von denen ich vier auf Vorrat gekauft hatte und die innerhalb von drei Jahren abgefahren werden müssen? Günstiger komme ich da nicht mehr hin. Gedacht – getan!

Mein Koffer allein auf Fernbus-Reise

Die Fahrt mit dem Fernbus von München nach Chemnitz mit Zwischenstopp in Nürnberg ist für mich eine Premiere. Abfahrt soll morgens gegen 7.00 Uhr im Busbahnhof München-Fröttmaning sein, Ankunft in Chemnitz gegen 13.30 Uhr. Zeit genug, denn ab 14 Uhr beginnt das offizielle Sightseeing-Programm für die Pressevertreter.

So das geplante Timing, doch es kommt – wie so oft im Leben – anders: Mit einer mehr als halbstündigen Verspätung fährt der Bus im Dezember-dunklen, kalten Busbahnhof endlich ein. Bis Nürnberg sind kaum Leute im Bus, erst ab Nürnberg wird es dann voll. Neben mir sitzt eine sympathische Frau, ebenfalls aus München, mit der ich mich angeregt unterhalte. Ein Glücksfall.

Der gelbe Bus war’s nicht, der rostig-blaue und der schöne rote auch nicht. Mein Bus war grün, mehr verrat‘ ich nicht.

25 Kilometer vor Chemnitz kommt der Verkehr auf der Autobahn wegen eines Unfalls ins Stocken. Unser Bus kommt nur noch im Schritttempo vorwärts. Ich gebe der PR-Frau von CWE  Bescheid, dass ich es bis 14 Uhr nicht schaffen werde, aber spätestens um 14.30 Uhr zur Führung durch die Innenstadt mit Besuch des Kulturkaufhauses DAStietz und dem 290 Millionen Jahre alten versteinertem Wald da sein werde.

Gegen 14 Uhr kommen wir endlich am Busbahnhof Chemnitz an. Ich fische meinen Koffer ganz hinten aus dem Gepäckraum heraus, erkundige mich zeitgleich bei einer Mitfahrerin nach dem Weg zum Hotel und ziehe den Koffer eiligen Schrittes hinter mir her, während der Bus weiter nach Dresden aufbricht.

Grau ist alle Theorie – auch mein Koffer, aber nicht nur der!

„Dusseldorf“, 9.200 km

Seltsam, der Koffer lässt sich gar nicht so wie meiner rollen. Ein bewusster Blick darauf, mein Atem stockt. Das ist ja gar nicht meiner! Auf dem Anhänger steht ein Name, der mir bekannt vorkommt. So hieß doch die Frau im Bus neben mir, die mir ihre Visitenkarte gegeben hatte. Ich krame sie aus der Tasche, suche darauf nach einer Handy-Nummer, finde aber keine, nur ihre Münchner Festnetz-Nummer. Die rufe ich an, bitte auf dem Anrufbeantworter um Rückruf, obwohl ich ahne, dass die Dame erst nach ihrer Rückkehr meine Nachricht erhalten wird. Jetzt ist sie erst mal im Fernbus unterwegs nach Dresden. Was tun – hier auf der breiten „Straße der Nationen“?

Aufgeregt rufe ich meinen Partner in München an und bitte ihn, das Busunternehmen zu kontaktieren, damit es – so meine blauäugige Vorstellung – den Koffer-Austausch in Chemnitz, Dresden oder irgendwo dazwischen organisiere. Im Hotel Biendo in meinem Zimmer mit tollem Fernblick im sechsten Stock angekommen, erreicht mich der Anruf der Münchnerin. Sie sei jetzt in Dresden und hätte meinen grauen Koffer, bräuchte aber dringend ihren grauen Koffer fürs Wochenende.

Da das Fernbus-Unternehmen außer blumige Hilfsversprechen zu geben nichts weiter unternimmt, entscheide ich kurzerhand, mit dem nächsten Zug von Chemnitz nach Dresden zu fahren. Wieder ziehe ich den fremden Koffer den gleichen Weg zurück, dann zum Bahnhof und kaufe dort ein Sachsen-Ticket für 25 Euro.

Zug-Bekanntschaften und ein geklautes Auto

Mein Zug von Chemnitz nach Dresden fuhr leider nicht am Meer entlang. Es war eh schon dunkel und vom sächsischen Paradies nichts zu sehen.

Fast eineinhalb Stunden braucht der Zug von Chemnitz nach Dresden, ebenso lang wieder zurück. Nach dem Kofferaustausch, der nur ein paar Minuten dauert, sitzt mir auf der Rückfahrt ein nonstop telefonierender Mann mit dunklen Augenringen gegenüber, der sich als Lokführer entpuppt. Einmal schnappe ich das Wort „München“ auf. In einer Redepause frage ich den Mann, was es damit auf sich habe, da ich aus München komme. Er erzählt mir, dass er kreuz und quer durch die Republik von Norden nach Süden fahre, das Leben als Lokführer heute sehr stressig sei und ihm in München mal sein Auto geklaut wurde. Er habe aber Glück im Unglück gehabt (der also auch!), weil seine Versicherung ihm ein neues Auto bezahlte.
Was sind schon zwei vertauschte Koffer gegen ein geklautes Auto, auch wenn es nicht meins ist? Gar nichts, denke ich mir und finde das irgendwie tröstlich.

Synchrone Ereignisse auf Umwegen

Sitzmöbel zum Reisen. Manche stellen sich Pressereisen vielleicht so vor…

Woher er denn komme, frage ich den Lokführer. Er sei aus Brattendorf in Thüringen. Thüringen? Von dort hatte doch mal die Besitzerin eines bayerischen Cafés ihre Rattan-Möbel bezogen, die mir so gut gefallen haben, erinnere ich mich. Mein Gegenüber bestätigt, dass es in Rittersdorf tatsächlich noch einen florierenden Handwerksbetrieb für Rattan- und Flechtmöbel gibt. Raten Sie mal, wie der Inhaber des Betriebs heißt: Grau.

Dreimal Grau – wenn das kein Mega-Zufall ist! Da es bekanntlich keine Zufälle gibt, nenne ich es lieber „Synchronizität“. Wieder mache ich die Erfahrung, dass ich auch über Umwege (nicht nur in Sachsen) zu neuen Erkenntnissen gelange, die noch intensiver sind und tiefer gehen als solche auf geraden Wegen, die direkt zum Ziel führen.

Die Welt ist nicht nur bunt, sondern treibt auch bunte Blüten. Interessant, dass dieser Slogan schon 2012 eine sächsische Wand zierte.
Die Welt ist nicht nur bunt, sondern treibt auch bunte Blüten. Diesen Slogan zierte schon 2012 eine Wand.

So schließen sich die Kreise wieder: Auf einer unvorhergesehenen Zugfahrt durch Sachsen erhalte ich von einem Thüringer Auskunft über Möbel, die ich in einem Café in Bayern gesehen habe. Bei nächster Gelegenheit muss ich mir mal den Freistaat Thüringen genauer anschauen, nehme ich mir vor. Ein aufregender Tag neigt sich dem Ende zu.

Von Mythos zu Mythos

Um 19.30 Uhr bin ich zurück in Chemnitz: froh, meinen Koffer wieder zu haben, aber viel zu müde, um am Abendessen in einem feinen Lokal teilzunehmen. Für diesen Tag war ich genug auf Achse. Meine Pressereise beginnt also erst am nächsten Morgen.

Mythos Pressereisen und Mythos Bier: Letzteres wirkt schneller, ersteres nachhaltiger.
Mythos Pressereisen und Mythos Bier: Letzteres wirkt zwar schneller, ersteres dafür umso nachhaltiger.

Mit einem Bier, das ich kurz vor Ladenschluss noch ergattere, beschließe ich den Tag. Es ist mein Betthupferl und lässt mich hungrig, aber beruhigt einschlafen. Dem Hopfen sei Dank!

Was lerne ich daraus?

Erstens: Bei Terminsachen – wozu auch Pressereisen zählen – nicht mit dem Bus anreisen, da unterwegs zu viele Unwägbarkeiten auftreten können. Letztlich hat die An- und Abreise von München nach Chemnitz und zurück nicht günstige 18 Euro, sondern mit Umweg über Dresden moderate 43 Euro gekostet.

Zweitens: Das war meine letzte Pressereise, bei der ich mich nicht nur einem unnötigen zeitlichen Stress aussetzte. Ab 2016 – so beschließe ich – werde ich keine Kosten mehr für die An- und Abreise übernehmen. Denn letztlich zahlt man bei Pressereisen immer drauf, weil danach die Arbeit erst richtig beginnt und bis zu einigen Wochen in Anspruch nehmen kann, für die keiner zahlt. Das ist der Preis für freies journalistisches Arbeiten.

Drittens: Meinen grauen Koffer ziert jetzt ein auffälliges, knallrotes Band, damit er mir bei zukünftigen (Presse-)Reisen nicht mehr auf Abwege gerät und ich ihm hinterher reisen muss.

Fazit: Dank meiner Schusseligkeit habe ich zwar einige interessante Programmpunkte am Nachmittag und Abend versäumt. Stattdessen hatte ich mein eigenes, unkonventionelles Programm und dabei auch noch wichtiges Innerdeutsches dazugelernt. Was will ein Wessi unterwegs in Ossi-Land mehr?

Zum Thema Reisefreiheit kann übrigens Bauer Korl – seines Zeichens gelernter „Folkspfilosoff“ – vom Golchener Hof im Sternberger Seenland in Meck-Pomm auch noch Erhellendes beitragen. 🙂

Bauer Korl: „Unser Held vom Feld in seiner Welt“

 

3 Gedanken zu „Paradiesisches“

  1. Tja, zuerst presst man die Habseligkeiten in den Koffer. Dann presst man sich in das Taxi, den Zug, Flieger oder Bus, presst sich durch die Tageszeit, presst sich den Text aus dem Hirn, wird von Terminen gepresst und letztendlich ist man auch noch finanziell ausgepresst. Deshalb: PRESSEREISE.
    Mach doch lieber Heilreisen, da kommst du zumindest heil an! Oder verstehe ich das falsch?

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  2. Liebe Jutta,
    eine lebendige, spannende aber auch nervzehrende Reise.
    Es spricht für deine Persönlichkeit, dass du aus allen Begebenheiten einen Gewinn ziehst und ihn auch noch so humorvoll beschreibst. Vielen Dank.
    Mit herzlichem Gruß aus Sri Lanka!
    Brigitte

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