Cabo Verde – Kapverden


Die s(w)ingenden Inseln des Windes

Mitten im Atlantik rund 1.600 km südlich von den Kanarischen Inseln und etwa 500 Kilometer vor der  Küste Westafrikas liegen die Kapverdischen Inseln. „Cabo Verde“ – „Inseln des grünen Kaps“, so heißen die zehn Eilande vulkanischen Ursprungs, von denen neun bewohnt sind, jede aber landschaftlich und kulturell anders ist. Vier von ihnen habe ich im Oktober 2014 besucht: São Vicente, Santo Antão, Fogo und Santiago. Am meisten beeindruckt hat mich die Vielfalt der Kapverdier, ein Schmelztiegel afrikanischer und europäischer Kulturen, ihre kreolische Identität, ihr „sodade“-Lebensgefühl und ihre Gastfreundschaft „morabeza“.

Sie ist allgegenwärtig. Auf jeder Insel der Kapverden wird sie wie eine Göttin verehrt: Cesária Évora. Ich kannte sie nicht, weder ihren Namen, noch ihr Gesicht, geschweige denn ihre Musik und auch nicht ihre barfüßigen Auftritte. Doch sie begleitete mich vom Tag der Einreise in Mindelo auf der Insel São Vicente bis zum Abend vor der Abreise in Praia auf Santiago. Wie eine Art Schutzengel.

Cesária Évora: Das Foto im Flughafen Mindelo ist von Joe Wuerfel.

Gleich bei der Passkontrolle auf dem nach ihr benannten Flughafen in Mindelo (São Vicente) hängt ein übergroßes Portrait der dunkelhäutigen Sängerin, die ihre Heimat mit ihren wehmütig-melancholischen Mornas in aller Welt berühmt gemacht hat. Mornas erzählen von Sehnsucht, Heimweh, Liebe, Schmerz, Hoffnung und Verlust, kurz von „Sodade“, einem Gemüts- und Gefühlszustand, den die Portugiesen Saudade nennen. Wenn man so will, ist Morna der Fado der Kapverden. Auch in Portugal wird Cesária Évora verehrt wie die größten Fadistas. Hintergrund ihrer Lieder ist die Geschichte ihrer Heimat mit Themen wie Isolation, Sklavenhandel und Emigration.

In „Paraiso Di Atlantico“ singt sie: „Cabo Verde ist ein Baum mit großen Blättern inmitten des Atlantischen Meeres. Seine Äste haben sich in die ganze Welt gereckt. Jedes Blatt ist ein geliebtes Kind, das vor langer Zeit wegging, um sein Glück zu suchen in eine glücklichere Zukunft mit Würde. Unsere Leute sind ein einig Volk in Frieden und sozialer Demut. Cabo Verde, klein und gepriesen, Wiege von Liebe und Sehnsucht, Paradies im Atlantik.“ Eine Liebeshymne, in der auch viel Wehmut mitschwingt.

Auf der Insel Santiago: Palmen über Palmen in Cidade Velha, Alte Stadt.

Geschätzte 700.000 Kapverdier leben und arbeiten im Ausland, mehr als auf den Inseln selbst. Anhaltende Dürreperioden, wiederkehrende Hungersnöte und ein Mangel an Arbeit veranlassten die Menschen zum Auswandern. Eine Hochburg von Exilkapverdiern gibt es in Boston, Massachusetts. Auch in Hamburg lebt eine Community. Viele Emigranten unterstützen ihre zurück gebliebenen Familien mit Geld, die Devisen machen ein Drittel des Staatshaushaltes aus. Etliche kehren im Alter zurück auf ihre Insel, bauen ein Haus und verbringen dort ihren Lebensabend. Die Kapverdier mussten sich immer integrieren und assimilieren, egal, ob sie auf ihren Inseln blieben oder in die Fremde gingen.

 

Göttlicher Frieden und wundervolles Klima

Cesária Évora, Ikone kapverdischer Musik, auf dem nach ihr benannten Flughafen in Mindelo auf der Insel São Vicente.

Mein erster Gedanke beim Verlassen des Flughafens in Mindelo: Hier bläst es aber ziemlich stark. Mein zweiter Gedanke beim Passieren einer überlebensgroßen, fülligen, dunklen Statue: Ein Denkmal zu Ehren der vielen Sklaven. Aber nein, es ist Cesária Évora, wie sie leibte und lebte. „Cize“, wie ihre Freunde sie nennen, starb mit nur 70 Jahren am 17.12.2011 hier in ihrem Heimatort Mindelo.

Die hoch geschätzte Grande Dame hätte bei meinen Assoziationen bestimmt ein Auge zugedrückt, weiter am Glimmstengel gezogen und einen Grog gekippt. Vielleicht hätte sie dann mit „Seja bem vindo!“ – „Herzlich willkommen!“ gegrüßt und mit rauchiger Stimme aus ihrem Lied „Ess Pais“ gesungen: „Wir besitzen keine Reichtümer, kein Gold, keine Diamanten, aber wir haben einen göttlichen Frieden, der selten ist auf dieser Welt. Und dieses wundervolle Klima, das uns Gott gab. Komm und lerne dieses Land kennen.

Genau das will ich zusammen mit anderen Inselhüpfern und den lokalen Guides von vista verde tours. Die kennen Land und Leute, sprechen Portugiesisch und/oder die Umgangssprache „Crioulo“, eine Mischung aus Portugiesisch mit afrikanischen Einflüssen, die auf jeder Insel anders klingt, und können so den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung leichter herstellen. Von den rund 520.000 Menschen auf allen neun bewohnten Inseln sind circa 70 Prozent Mulatten, 29 Prozent Afrikaner und ein Prozent Weiße. Auffällig ist die Vermischung von Europäern und Afrikanern, die sich zum Beispiel bei Menschen mit dunkler Haut und blonden Haaren zeigt. Ein buntes Vielvölkergemisch von portugiesischen Eroberern, Seefahrern aller Nationen, afrikanischen Sklaven und politisch Verfolgten mit einem starken Gefühl der Zusammengehörigkeit.

„Wir sind ein ‚melting pot‘ verschiedener Kulturen. Unter uns herrscht eine friedliche Koexistenz. Uns ist nicht wichtig, woher wir kommen“, beschreibt der kapverdische MpD-Politiker José Filomeno Monteiro (MpD = Bewegung für Demokratie) sich und seine Landsleute in feinstem Englisch. Mit ihm dürfen wir am letzten Abend auf der Dachterrasse des VIP Praia auf der Insel Santiago speisen, ein kluger, weltoffener Mann – früher war er Konsul von Hongkong.

Morabeza: gastfreundlich und offen

Fremden gegenüber sind die Kapverdier – so habe ich das erlebt – aufgeschlossen, kontaktfreudig und unvoreingenommen. Auf Kreol gibt es sogar ein Wort dafür: „Morabeza“. Es bedeutet Gastlichkeit, Warmherzigkeit, Toleranz, Freundschaft, Teilen – und ist Inbegriff für das typisch kapverdische Lebensgefühl.

Der Pranger (Pelourinho) aus dem Jahre 1512 erinnert an die Geschichte des Sklavenmarktes in Cidade Velha, früher Ribeira Grande. Die ehemalige Hauptstadt Kap Verdes auf der Insel Santiago ist seit 2009 UNESCO Weltkulturerbe.

Sicherlich hängt diese Einstellung mit ihrer bewegten Geschichte zusammen: Seit der Entdeckung durch die Portugiesen im Jahre 1460 waren die Inseln über 500 Jahre eine Kolonie. Als Überseekolonie Portugals fungierten sie im 16. Jahrhundert als Drehkreuz des Sklavenhandels zwischen Europa, Afrika und Amerika. Erst 1875 wurde die Sklaverei abgeschafft.

Wiederum 100 Jahre später, am 5. Juli 1975, erlangten die Inseln ihre Unabhängigkeit. Dazu verhalf ihnen auch der kapverdische Politiker Amílcar Cabral mit seinem Kampf in der Unabhängigkeitspartei PAIGC. Am 20. Januar 1973 wurde der Intellektuelle ermordet. Heute noch ist er eine wichtige Symbolfigur, an seinem Todestag ist gesetzlicher Feiertag und Tag der Nationalhelden.

Zu Morabeza trägt bestimmt auch das Klima bei: 365 Sonnentage im Jahr und nur zwei Jahreszeiten, eine feuchte mit unregelmäßigen Regenfällen zwischen August und Oktober und eine trockene oder windige zwischen November und Juli. Der Nordost-Passat, der das (sub)tropische Klima etwas mildert, unterteilt die Inseln in die nördlichen, dem Wind zugewandten Inseln über dem Wind (Ilhas de Barlavento), und die südlichen, windgeschützten Inseln unter dem Wind (Ilhas de Sotavento). Zunächst besuchen wir zwei Inseln über dem Wind: São Vicente und Santo Antão.

 

Good vibrations in Mindelo auf São Vicente

Blick auf Mindelo, die Hauptstadt São Vicentes, mit dem großen und tiefen Hafen Porto Grande.

São Vicente gehört zu den kleineren Inseln des Archipels und ist gebirgig, sehr trocken und wüstenhaft. Rund 74.000 Einwohner leben hier, die meisten von ihnen in Mindelo, der Inselhauptstadt und zweitgrößten Stadt Cabo Verdes. Mindelo liegt an der weiten Bucht einer versunkenen Caldeira, entstanden durch den Einbruch eines Vulkankraters. Der Aufstieg Mindelos begann im 19. Jahrhundert, als der Hafen Porto Grande eines der weltweit wichtigsten Kohlelager für die Dampfschifffahrt wurde. Aufgrund seiner ungewöhnlichen Tiefe war er lange Zeit der größte Hafen im Atlantik und für die britischen Kohledampfer die letzte Station vor Rio. Dies ist schon lang vorbei, doch noch heute zählt er neben Dakar und Las Palmas zu den wichtigsten Atlantikhäfen.

Ein Schmuckstück in Mindelo: die Praça Nova mit Quiosque (Kiosk).

Sehenswürdigkeiten in Mindelo sind die Altstadt, der Fischmarkt und der Nachbau des Torre de Belém von Lissabon, das Wahrzeichen der Stadt. Ebenso das Nobelviertel Praça Nova mit gleichnamigem Platz, auf dem das Quiosque mit einem schönen Jugendstilpavillon zu einer Rast einlädt. Offiziell trägt die Praça Nova den Namen des kapverdischen Unabhängigkeitskämpfers Amilcar Cabral.

Beim Spaziergang entlang der Uferstraße – von hier aus sieht man auch schön den Monte Cara (Gesichtsberg) – fühle ich mich an vieles erinnert: an den morbiden Kolonial-Charme von Stone Town auf Sansibar, an Agadir in Marokko, an Cochin in Kerala, es hat von allem etwas. Die Musik, die hin und wieder aus einem Café dringt, klingt überhaupt nicht amerikanisch, sondern brasilianisch-karibisch: mal swingende Coladeira-Rhythmen, mal schnelle Funaná-Klänge, auf jeden Fall exotisch.

Der Monte Cara (Gesichtsberg) in Mindelo erinnert an ein liegendes Gesicht.

 

 

Neben dem Katholizismus – rund 90 Prozent der Kapverdier sind Katholiken – ist die zweite inoffizielle „Religion“ auf Cabo Verde die Musik. Das größte Musikfestival findet seit 1984 jährlich am Vollmond-Wochenende im August am weißen Sandstrand von Baía das Gatas (Katzenbucht), einem Fischerdorf an der Nordostküste São Vicentes, zehn Kilometer östlich von Mindelo, statt.

Musik gehört ebenso wie leidenschaftliches Tanzen und ausgelassenes Feiern zum kapverdischen Lebensgefühl, am intensivsten zu erleben beim Karneval in Mindelo. Er findet zur gleichen Zeit wie bei uns der Fasching statt. Mit wenig Geld, aber viel Fantasie kostümieren sich die Kapverdier. Die farbenprächtigen Umzüge und heißen Samba-Rhythmen ähneln dem Karneval in Rio. Die pechschwarzen Mandingue – ihre Fotos erinnern mich spontan an Perchten – heizen mit ihren Rhythmen die Menge an. Sie kommen aus Ribeira Bote, dem ehemaligem Rotlicht- und Arbeiterviertel der Hafenstadt, das nicht ganz ungefährlich sein soll. Etwa jeder zweite ist hier arbeitslos.

Mandingues in Mindelo/Ribeira Bote: Zu den Umzügen kommen jedes Jahr mehr Besucher aus dem In- und Ausland.

Turismo Comunitário: Geführte Touren durch Ribeira Bote in Mindelo

Um den Bewohnern des prekären Stadtteils Ribeira Bote zu helfen und die Infrastruktur zu verbessern, gibt es seit 2012 das Projekt „Turismo Comunitário“. Es bietet zwei bis maximal 16 Personen circa dreistündige Touren zu Fuß mit lokalen Führern an und ermöglicht so den Kontakt zu den Bewohnern. Die besuchten Gastgeber wechseln bei jeder Tour, damit kein Neid unter ihnen entsteht. Bei unserem Rundgang begegnen uns auffällig viele Schuhe in den unterschiedlichsten Funktionen: als Schuhwerk, als Kunstwerk und als Geheimcode.

Vittorio, gut gelaunter Schuhmacher, der auch Prediger ist.

Schuhmacher Vittorio lernen wir in seiner Werkstatt kennen. Sieben Leute muss er mit seiner Arbeit ernähren. In einer Freikirche ist er auch als Prediger tätig.

In seinem Atelier besuchen wir den Künstler und Steinmetz Albertino Silva. Als zwölftes Kind einer Familie hat er sich autodidaktisch die Arbeit mit Stein – meist dunklem Lavastein – beigebracht. Seine Skulpturen, die familiäre Motive zeigen, stellt er auch in Spanien und Frankreich aus.

Albertino Silva mit seinen lachenden Schuhen, die ihn über die Inselgrenzen hinaus bekannt gemacht haben.
Die Schuhe hängen nicht zum Trocknen hoch zwischen den Häusern. Angeblich sind sie ein Zeichen für Drogenhandel.
Donna Francesca bewirtet uns mit einem einfachen, aber leckeren Mittagessen. Es gibt Cavalla (Pferdemakrele) mit einer Cebola-Soße (Zwiebelsoße), Reis und Brot.

Berühmt wurde Silva durch alte Schuhe, die er zu lachenden Gesichtern umgestaltete. Der schlechte Ruf von Ribeira Bote gehe zurück auf die Kolonialzeit, erzählt er. Hier war die Wiege des Aufstands gegen die portugiesischen Kolonialherren. Bis heute gilt die Bevölkerung als rebellisch. In den letzten fünf Jahren kämen aber immer mehr Leute zu den Umzügen an Karneval, auch wegen der Mandingue, die aus dem Viertel stammen.

Bitu – der Künstler dieser großflächig bemalten Hausfassade – kann von seinen Bildern leben, erfahren wir von Mirian Lopes.

Resümee: Empfehlenswert ist die Tour für alle, die die Insel auch mal von einer anderen Seite kennen lernen wollen. Man kann sie individuell bei ONE WORLD oder direkt vor Ort bei vista verde buchen. Für zwei Personen inklusive Mittagessen, Guide und Transfers kostet die Tour 55 € pro Person.

Einige Impressionen der Tour durch das Viertel Ribeira Bote in Mindelo:

Nach der Tour zieht es mich abends ins kleine Café Lisboa. Bei einem kühlen Strela-Bier und einem frisch gepressten Saft lausche ich kapverdischer Live-Musik – die drei Musiker spielen und singen vis-a-vis am Nachbartisch. „No stress“ las ich beim Stadtrundgang durch Mindelo. Beim entspannten Zuhören in der von Einheimischen und Touristen gut besuchten Kneipe fällt der Stress wirklich von einem ab.

Das Café Lisboa liegt in Mindelo in der Rua Lisboa.
Die Live-Musik im Café Lisboa wirkt ansteckend.
No stress am „Cachorro Quente“ – Hot Dog-Stand in Mindelo.

Als der Hunger zu groß wird, gehen wir einmal um die Ecke und im Fund d’Mar die Treppe hoch. Das Lokal ist stilvoll afrikanisch eingerichtet mit schweren Holzmöbeln und Reliefs an den Wänden. Die Pizzen schmecken „mut sab“ – sehr lecker! Auf Monitoren an der Decke sieht und hört man sie auch hier singen und ihre Körperfülle sparsam bewegen: Cize, die barfüßige Diva. Ein multisensuelles Erlebnis!


Tud dret? – Alles klar?

In Mindelo ist nicht nur die Musikszene, sondern auch die Kunst zu Hause. Wir sind zu Gast bei Kiki Lima, einem über die Inselgrenzen hinaus bekannten und erfolgreichen Maler, der seine Bilder auch in Lissabon ausstellt und verkauft. Neben der Eingangstür zu seinem Haus hängen zwei Augengläser, darüber die Frage: Tud dret? Alles klar?

Bei Kiki Lima scheint alles klar, er sieht rund und g‘sund aus. Die Werke in seinem kleinen Museum zeigen, wie sich seine Kunst entwickelt hat, hin zu farbenfrohen Motiven. Sie zeigen Alltagsszenen auf dem Markt, aber auch Frauen, die ausgelassen mit wehenden Kleidern tanzen. Die Bilder sprühen vor Lebensfreude.

 

Anhand seiner Skulptur „Familia Bananera“ erklärt er, dass die Kapverdier wie Bananen sind: eine große, bunte Familie. Viele seiner Werke garniert er zusätzlich mit Gedichten und Geschichten.

Im Keller bewirtet uns seine Frau mit einer Katxupa (cachupa), dem kapverdischen Nationalgericht. Ihre Katxupa Rica (die Reichen-Variante) enthält außer Mais und Bohnen noch Gemüse, Kohl, Fleisch, Süßkartoffeln und Maniok. Malagueta verleiht dem Eintopf die scharfe Würze.

An Schlafen ist noch lange nicht zu denken, denn Kiki Lima entpuppt sich auch als begnadeter Musiker. Auf seiner Gitarre spielt und singt er ein Lied nach dem anderen, sehr gefühlsbetont und poetisch.

Morna gibt es in vier Steigerungen. Kiki Lima beherrscht sie alle.

Trunken vor Glück – auch dank vinho tinto und Grog –  schweben wir leichtfüßig zurück zu unserer Unterkunft „Kira’s“.

Santo Antão: tropische Terrasseninsel zum Erwandern

Hetty Guddens ist stets gut gelaunt und gut behutet.

Nach einer kurzen Nacht fahren wir morgens kurz nach acht Uhr mit der Fähre von Mindelo zur Nachbarinsel Santo Antão, die zweit größte kapverdische Insel. Die Überfahrt dauert eine Stunde.
In Porto Novo empfängt uns eine junge Frau vor einer modernen Halle, darin die einzige Rolltreppe der Kapverden. Wie die meisten Einheimischen hört Henrieta aber lieber auf ihren Spitznamen: Hetty. Sie hat holländische Wurzeln, spricht mehrere Sprachen, arbeitet für vista verde tours auf Santo Antão und lebt hier auch. Für die nächsten zwei Tage ist sie unsere Wanderführerin.

São, Santo, Santa – auffallend viele kapverdische Inseln sind nach katholischen Heiligen benannt, Santo Antão zum Beispiel nach Antonius dem Großen, Schutzpatron der Insel. Das Paúl-Tal auf Santo Antão, in dem Hetty lebt, hat sogar seinen eigenen Heiligen: Santo Antonio, den Schutzpatron der Liebenden und Eheleute. Beim Wandern vertraut sie mir an, dass sie mit einem „guten Mann“ verheiratet sei und zwei süße Kinder habe (siehe das Foto am Ende des Berichts). Damit ist sie fast eine Ausnahme, denn auf den Kapverden gibt es mehr „wilde Ehen“ als Verheiratete (nur etwa 20 Prozent). Noch erstaunlicher bzw. fortschrittlicher ist jedoch, dass das kapverdische Recht in Sachen lose Beziehungen sehr frauenfreundlich ist. Wenn ein unverheiratetes Paar drei Jahre zusammenlebt, wird ihre Beziehung rechtlich wie eine Ehe behandelt. Bei dieser „união de facto“ sind die Rechte und Pflichten zwischen beiden gleich verteilt, also fifty-fifty.

In einem Aluguer (Sammeltaxi) fahren wir vom Hafenort Porto Novo einmal quer durch die Insel Richtung Ribeira Grande, der Hauptstadt von Santo Antão. Die serpentinenreiche Kopfsteinpflasterstraße aus Basalt ist 36 Kilometer lang. Sie wurde in Handarbeit gebaut – 13 Jahre lang, zum Großteil von Frauenhänden! Akazienbäume säumen den Straßenrand, sie kommen mit nur wenig Wasser aus. Aloe-Vera-Pflanzen sollen die Bodenerosion aufhalten. Unterwegs vom Südosten zum Nordosten der Insel wechselt die Landschaft dramatisch: zunächst noch staubig, steinig, karg und trocken durch senkrecht emporragende Felskegel, dann durch Kiefernwald bei Cova und Corda.

Der Cova-Krater, der Krater eines erloschenen Vulkans, ist das größte Wasserreservoir auf Santo Antão. Der Talboden hat fast einen Kilometer Durchmesser und wird landwirtschaftlich genutzt. Mit seinem Kamm stellt er auch eine Wetterscheide für den Nordostpassat dar.

Oben auf dem Kamm thront eine weiße Kugel, die Wetterstation. In der Nähe liegende Orte wie Corda und Täler wie Ribeira do Paúl profitieren davon, sie sind fruchtbar und tropisch grün. Was auf Santo Antão angebaut wird, geht auch nach São Vicente, wo es kaum Landwirtschaft gibt. Nachbarschaftshilfe von Insel zu Insel.

„No bai!“ – „Lass uns gehen!“

In Corda auf 800 Metern Höhe starten wir unsere erste Wanderung: Auf der „Strada de Corda“ geht es immer bergab, vorbei an Mais-Terrassen, an Feigen in Figueral (Feigental), Zuckerrohr, Bananen, Mangos, Agaven, Wanderröschen, Hibiskus und anderen exotischen Früchten und Pflanzen.

Nach rund zweieinhalb Stunden und elf Kilometern kommen wir in Coculi auf 200 Höhenmetern an. Hier wachsen – nomen est omen – Kokosnüsse. Der Prinz von Luxemburg mag Coculi und hat die Schule in dem Ort finanziert, erfahren wir von Hetty, deren Familie auch hier lebt. 50 Prozent der hiesigen Bevölkerung sind Kinder, die bis zum 12. Lebensjahr in die Schule müssen. Hier bekommen sie auch ein warmes Essen gratis.

Der tropische Wald steckt voller unerwarteter Begegnungen.

Um die hohe Babysterblichkeit zu reduzieren, ist es heutzutage verboten, Babys zuhause zu bekommen. Hausgeburten werden mit einer Geldstrafe geahndet. Dann gibt es noch die Tradition, am siebten Tag nach der Geburt eines Kindes eine Hexenvertreibung zu zelebrieren, damit die Hexen – so der alte Glaube – keine Babys essen. Ich versuche mir vorstellen, wie das in der Praxis aussieht, da erinnert Hetty mit „No bai!“ – „Lass uns gehen!“ an unser Mittagessen in Cha d‘ Igreja bei „Mité e Banana“. Am Nachmittag fahren wir weiter nach Ponta do Sol, dem nördlichsten Punkt der Kapverden.

Santo Antão: von der Hafenstadt Porto Novo bis zum nördlichsten Punkt des kapverdischen Archipels nach Ponta do Sol.

Flechten und Wege

Unser rund einstündiger Verdauungsspaziergang von Ponta do Sol zum Bergdorf Fontainhas ist knieschonender, da ebenerdig, und  schattiger, aber ebenso imposant, da es immer an der Küste entlanggeht. Spektakulär wie Adlerhorste liegen die bunten Häuser in Fontainhas an der steilen Bergwand, umgeben von einer herrlichen Terrassenlandschaft.

Am meisten beeindruckt mich, was es mit einem unscheinbaren Gewächs auf Felsen, einer Flechte der Gattung Roccella, die nur in Küstenregionen wie hier wächst, auf sich hat: Aus ihnen wurde früher der purpurfarbene Stoff „Orseille“ gewonnen, neben dem Purpur einer Schnecke lange Zeit der wertvollste Farbstoff. Zerkleinerte Flechten, versetzt mit Eselsurin, gärten vor sich hin, wodurch der rote Farbstoff Orcein entstand. Unter Zugabe von Kaliumkarbonat, Kalk und Leim entstand tiefblauer Lackmus. Mit diesem organischen Pflanzenfarbstoff färbte man die Kleidung. Farben aus Flechten ergaben besonders warme und tiefe Farbtöne. Sie waren jedoch nicht lichtecht und wurden von synthetischen Farben verdrängt. Ein Verdienst ist jedoch geblieben: Um die Flechten sammeln zu können, wurden Wege gebaut – heute sind das Wanderwege.

 

Zum Ausklang eines schönen Wandertages gönne ich mir in Punta do Sol einen Cappuccino und mache eine interessante Erfahrung: Als ich ein Tütchen Kaffee für 120 Escudos (rund 1,20 Euro) erhalte und reklamiere, dass ich einen frisch gemahlenen, einheimischen Kaffee möchte, bekomme ich einen aromatisch-runden mit etwas Milch für nur 100 Escudos. Den genieße ich dann auch bei Sonnenuntergang und mit Meerblick.

Abendstimmung am Fischerhafen von Punta do Sol mit „Cat of the day“.

Die zwei Nächte in Vila das Pombas bleiben unvergesslich. Näher am Meer als im Hotel Paúl Mar kann man nicht übernachten. Ununterbrochen und unüberhörbar brandet der Atlantik auf den schmalen Strand direkt vor dem Fenster.

No stress!

Das Wander-Highlight auf Santo Antão

Im Paúl-Tal stehen noch traditionelle Häuser. Ihre Dächer aus Zuckerrohr werden jedes Jahr mit einer neuen Lage gedeckt und nach circa zehn Jahren erneuert.

Ribeira do Paúl, das Paúl-Tal, im Nordosten der gebirgigen Insel ist sehr grün und fruchtbar. Dank des Wassers vom Cova Krater und den Levadas (Wasserläufen) wächst hier alles, was in den Tropen wachsen kann: Drachenbäume, Jacarandas, Brotfruchtbäume, Zitronengras, Bananen, Guaven, Avocados, Ingwer, Maniok, Kaffee und vieles mehr.

Auf Santo Antão sollte man gut zu Fuss sein. Vorne: Autorin Jutta Keller. Foto: Rainer Heubeck

Ein Garten Eden. Das Auge kann sich nicht satt sehen am „wild gardening“: Auf einem Feld stehen Karotten neben Zuckerrohr, in der Nähe sitzt im Schatten eines Orangenbaums ein alter Mann, der alle Zeit der Welt zu haben scheint. Er lässt uns die grünen Orangen probieren. Sie kommen aus dem Senegal und schmecken säuerlich.


Kaffee und Zuckerrohrschnaps

Grüne Kaffeebohnen sind noch nicht erntereif.

Ribeira do Paúl ist ein Zentrum des Zuckerrohr- und Kaffeeanbaus. Die Sorten Arabica und Robusta wurden zu einer Sorte gezüchtet. Zweimal im Jahr, im März und September, werden die Kaffeebohnen geerntet. Isa Nia, 30 Jahre, verdient mit dem Zerstoßen, Sieben und Mörsern von Kaffeebohnen sieben Euro am Tag und darf zusätzlich 20 Prozent einer Kaffee-Ernte behalten.

Zuckerrohr kann man roh essen: zuerst schälen mit den Zähnen oder einem Messer, dann zuzeln wie eine Weißwurst, schmeckt süß wie ein Dessert. Die alkoholreiche Variante entsteht, wenn Zuckerrohr zu Schnaps oder „Grogue“, dem Nationalgetränk der Kapverden, weiter verarbeitet wird.

Neun bis 24 Monate braucht Zuckerrohr zum Wachsen, bevor es erstmals geerntet wird. Nach der Ernte werden die Pflanzen gepresst, dann gebrannt. Nur sechs Monate im Jahr (Januar bis Juli) darf destilliert werden. Dass ein Grog auf traditionelle Art und nicht industriell hergestellt wurde, erkennt man an seinem Barcode. Bei „Pinto y Filios“ probieren wir Grog. Ich nehme mir einen 16-prozentigen „Ponce d Coco“ mit: einen leckeren Punsch aus Zuckerrohrbrand mit Milch und Kokos für 400 Escudos (1/2 Liter).

Für den Österreicher Mandl sind die „Kapverden wie das alte Griechenland, bevor es weiß getüncht war“.

Isa Nia lebt mit ihrem Mann und Sohn in einem winzigen Haus.

Wer sich für den genauen Herstellungsvorgang von Zuckerrohr zu Grog interessiert, kann dies auf der Homepage von Alfred Mandl, einem Österreicher aus der Steiermark, der seit 1982 auf den Kapverden lebt, nachlesen. In seiner urigen Bar „O Curral“ in Chã de João Vaz im Paùl-Tal bietet Alfred selbstgemachten Schnaps, Fruchtsäfte, Käse, Kaffee, Obst aus eigenem Anbau und einheimische Gerichte zum Verzehren und zum Kaufen an.

Liköre aus verschiedenen Früchten, deshalb die Farben. Alles stammt aus Eigenanbau.

 

Der letzte Abend auf Santo Antão

Wir sind bei Hetty zu Hause zum Abendessen. Es schmeckt „mut sab“. Zwei Freunde – Calu (Carlos) und Toys (Admilson) – spielen Gitarre und singen dazu. Als Calu dann auch noch virtuos die Geige bearbeitet und Hetty dazu singt, sind alle aus dem Häuschen. Aufreizend tanzt sie mit ihrem Mann die Colá, ihre beiden kleinen Kinder tänzeln drum herum.

Mit zwei Instrumenten in beiden Händen rassle ich den Rhythmus mit. Auf dem braunen Instrument aus einer Bohne des Flammenbaums – in seiner Form ähnelt es einem Bumerang – steht „Cordas do Sol“. Was das wohl heißen mag?

Glücksgriff: „Terra de Sodade“

Erst kurz vor der Rückreise klärt sich das Geheimnis in einem Souvenirshop. Aus der Vielzahl der angebotenen CDs entscheide ich mich spontan für eine, deren Cover mir gut gefällt. Darauf steht „Cordas do Sol“ und „Terra de Sodade“. Der Verkäufer klärt mich auf, dass Cordas do Sol eine bekannte Band aus Santo Antão ist. Er bietet mir an, in die CD zu hören, doch das will ich erst zuhause. Top oder Flop? Top, denn es ist ein wirklicher Glücksgriff! Auf meine Frage, welches der zwei Leporellos mit Schwarz-Weiß-Postkarten er mir empfehlen würde, rät er mir zu dem Leporello, in dem auf einer Karte Cesária Évora zu sehen ist. Wieder einer ihrer zahlreichen Verehrer.

Als ich die CD zuhause einer Musikerin vorspiele, ist sie begeistert: „Das ist ganz mein Musikgeschmack. Faszinierende Sprache, faszinierende Klänge, faszinierende Stimmen.
Eine freundliche Stimmung macht sich breit. Die werde ich mir sicher noch oft anhören!“

Interieur im Café Fund d’Mar in Mindelo

 

 

„Padóce de Céu Azul” – „Ein Stück blauer Himmel”
Komponist: Valdemiro Ferreira („Vlú“), Interpreten: Tito Paris und Luís Caracol
(Vielen Dank für die Information an Isabel Spencer von Kira’s!)


Vulkanausbruch auf Fogo 

Fogo, die schwarze Vulkaninsel, besuchen wir im Oktober 2014 zwei Tage lang. Auf über 1.700 Metern nächtigen wir im Nationalpark am Fuße des 2.829 Meter hohen Pico de Fogo, dem landschaftlichen Wahrzeichen des Landes, in der Chã das Caldeiras bei Mustafa Eren. In der Caldeira wohnen über 1.000 Menschen, die von Landwirtschaft, vom Weinanbau und Tourismus leben. Wir besichtigen die Weingärten und kosten den leckeren Fogo-Rotwein. Carlos „Cecilio“ Montrond, sympathischer Wanderguide von vista verde tours, lädt uns zu sich nach Hause ein und erzählt, dass die Menschen von Fogo „hard like a vulcano“ sind.

Wenn er Deutsche sehe, sei er glücklich, weil sie für ihn 15.000 Euro gesammelt hätten und damit sein schwer verletztes Bein in Deutschland zum Selbstkostenpreis operiert werden konnte. Nun sei es wieder gesund und belastbar. Zu einer spontanen Session kommt es im Hof seiner Privatunterkunft, als Camilo Montrond mit seiner Gitarre aufspielt. Eines seiner Lieder – „Lady“ – klingt in meinen Ohren hitverdächtig.

Vorwarnsystem in der Kraterebene Chã das Caldeiras auf Fogo.

Nach 19 Jahren Ruhe beginnt am 23.11.2014 der Ausbruch des Vulkans nahe dem Ort seiner letzten Eruption von 1995, die damals den Pico Pequeño schuf. Bilder, die während unseres Aufenthalts in der Chã das Caldeiras entstanden, sind jetzt Geschichte. Dörfer, die wir besuchten, sind zerstört; die Bewohner mussten evakuiert werden.
Pitt Reitmaier und Mike Goike beschreiben auf ihren Seiten den Ablauf des Vulkanausbruchs und nennen Spendenkonten.

Camilo Montrond Fontes singt ein trauriges Lied über den Vulkanausbruch auf Fogo,
der ihm sein Haus in der Chã das Caldeiras genommen hat.

Fotos von der Insel Fogo vor Ausbruch des Vulkans sehen Sie hier: Fogo
Fotos 1-14 zeigen São Filipe, die Hauptstadt Fogos.
Fotos 15-52 entstanden im Nationalpark in der Chã das Caldeiras, die vom Vulkanausbruch betroffen ist.


Zu dem einwöchigen Fam-Trip auf die Kapverden hatte ONE WORLD – Reisen mit Sinnen in Kooperation mit vista verde tours Ida. und TAP Portugal im Oktober 2014 eingeladen. ONE WORLD bei Facebook.


Weitere Informationen
Cabo Verde Inside
Sehenswerte Dokumentation von Alexander Schnoor

 

 

„Alexander Schnoor ist in Deutschland geboren. Sein Vater ist Deutscher, seine Mutter Kapverdianerin. Er war noch nie auf den Kapverdischen Inseln und begibt sich auf die Suche nach seinen Wurzeln. Zunächst daheim in Deutschland, dann auf den Kapverdischen Inseln selbst. In dem 35-minütigen Dokumentarfilm wird die einzigartige Vielseitigkeit des Inselstaates und das Lebensgefühl der Kapverdianer hervorgehoben. Drehorte des Filmes waren Hamburg, Berlin, Maastricht und die Kapverdischen Inseln.“
Buch, Regie, Kamera, Schnitt: Alexander Schnoor
Tonmischung: Luis Octavio Noschang
Nominiert für den Hessischen Filmpreis 2009

 

Afrikanische und kapverdische Musik im Internetradio: Radio Kriola von Mike Goike

 


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